Was geht Ihnen durch den Kopf (und das Herz!), wenn Sie die Hunger- und Durststreikenden Flüchtlinge in Berlin sehen?
###mehr-personen### Thorsten Leißer: Ich sehe verzweifelte Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Die durch ihre Erlebnisse zu keinem Kompromiss bereit sind. Und doch ist es zugleich ein Hilferuf, mit dem sich diese Menschen Gehör verschaffen und gegen ihre Lebensbedingungen protestieren. Diesen Hilferuf müssen wir ernst nehmen!
Sollte die Bundesregierung auf die Forderungen dieser Flüchtlinge eingehen?
Leißer: Die Asylsuchenden haben verschiedene Anliegen. Ein sofortiges dauerhaftes Bleiberecht und ein Abschiebestopp für alle sind beispielsweise Forderungen, die den Rechtsstaat außer Kraft setzen würden. Das wird sich keine Regierung in Europa diktieren lassen. Andererseits gibt es auch Forderungen, die von Kirchen und Nichtregierungsorganisationen schon lange erhoben werden, wie etwa die Abschaffung der so genannten Residenzpflicht, der Unterbringung in Sammelunterkünften und der Sachleistungen wie Essenspakete. Und wenn Asylverfahren zügiger durchgeführt und Arbeitserlaubnisse früher erteilt würden, wäre das eine deutliche Verbesserung für Asylsuchende in unserem Land.
Sollte es Ihrer Ansicht nach neben politischer Verfolgung weitere Asylgründe in Deutschland geben - zum Beispiel Hunger, wie Jean Ziegler vorschlägt?
###mehr-info### Leißer: Ich habe viel Sympathie für diesen Vorschlag. Dahinter steht die grundsätzliche Frage, ob das hergebrachte Verständnis von Asyl für politisch Verfolgte in heutiger Zeit noch greift. Hunger ist ein wichtiger Grund zur Flucht. Und was ist mit Klimaflüchtlingen? Was mit Menschen, die aus einem totalitär regierten Land wie Eritrea fliehen? Junge Männer, die einen unbefristeten Zwangsmilitärdienst ableisten müssen? Gelten diese im herrschenden Sinne als politisch verfolgt? Ich glaube, wir kommen nicht umhin, die in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Verfolgungsgründe fortzuschreiben und für das 21. Jahrhundert anzupassen.
Was halten Sie von der Dublin-Regelung, nach der ein Flüchtling nur in einem europäischen Land einen Asylantrag stellen darf?
Leißer: Die Dublin-Konvention regelt zunächst, dass ein Asylsuchender in dem Land seinen Asylantrag stellen muss, in dem er zum ersten Mal das Gebiet der EU betreten hat. Das war der Versuch, Zuständigkeiten innerhalb der Europäischen Union zu regeln und somit Klarheit zu schaffen. De facto aber hat die Konvention das Problem vor allem in den Ländern an den Außengrenzen verschärft. Malta, Italien oder Griechenland sehen sich kaum in der Lage, ein geordnetes Asylverfahren durchzuführen. Die Menschen werden dort entweder unter inakzeptablen Bedingungen "gehalten" oder sich selbst überlassen. In der momentanen Situation schafft Dublin mehr Probleme, wie man ja auch an den Flüchtlingen sieht, die in Hamburg gestrandet sind. Denn die müssen streng genommen nach Italien zurück. Dort aber wird sich niemand um sie kümmern. Das deutsche Aufenthaltsrecht bietet in solchen schwierigen Fällen die Möglichkeit eines vorübergehenden Aufenthalts. Warum dies von Seiten der politisch Verantwortlichen nicht genutzt wird, kann ich bisher nicht nachvollziehen.
In welchen Punkten sollte das deutsche Asylrecht geändert werden?
###mehr-artikel### Leißer: Die Abschaffung von Residenzpflicht und Arbeitsverbot habe ich ja schon genannt, dazu auch die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Die Ausgestaltung vieler Regelungen sind Ländersache und da bewegt sich zum Glück schon immer mehr. Grundsätzlich treten wir als Kirchen für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ein, denn es bildet den Rahmen für viele dieser problematischen Regelungen. Es dient heute vor allem der Abschreckung, statt Menschen eine würdige Existenz zu sichern. Insofern haben die Kirchen auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu begrüßt, in dessen Begründung es ja heißt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht relativiert werden darf.
Aber wird man mit diesen Veränderungen die Probleme lösen und Flüchtlingsdramen wie die vor Lampedusa verhindern?
###mehr-galerien### Leißer: Wir müssen irgendwann einmal einsehen, dass die Asylpolitik eine geregelte Einwanderungspolitik nicht ersetzen kann, zumindest nicht auf Dauer! Neben denjenigen, die im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention einen Rechtsanspruch auf internationalen Schutz haben, wagen auch viele Menschen die lebensgefährliche Reise nach Europa in der Hoffnung auf besseres Leben, ja überhaupt auf eine Lebensperspektive. Viele, die es bis nach Europa schaffen, sind gut ausgebildet, klug und haben einen starken Lebenswillen. Was würde passieren, wenn Europa seine Türen öffnen und Menschen wirklich willkommen heißen würde? Niemand kann vorhersehen, was dann geschieht. Aber es dominieren nur die dunklen Schreckensszenarien von einem nicht abreißenden Menschenstrom. Andere Experten jedoch sind skeptisch, ob wirklich "ganz Afrika" nach Europa möchte. Ich bin kein Hellseher, aber wenn die EU endlich legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen würde, hätte das vielleicht positive Effekte für alle Beteiligten, auch für die Gesellschaften Europas, denen die Demographie im Nacken sitzt. Und ganz nebenbei wäre den kriminellen Schleppern das Geschäft verdorben.
Warum setzt sich die EKD nicht intensiver öffentlich für Flüchtlinge ein?
###mehr-links### Leißer: Es kommt darauf an, was "intensiv" heißt. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist mit diesen Fragen ständig beschäftigt. Wir nutzen alle unsere Beziehungen zur Politik, um uns für bessere Lebensbedingungen von Asylsuchenden einzusetzen. Immer wieder äußern sich kirchliche Repräsentanten öffentlich und bringen ihre Forderungen vor. Und in Hamburg steht die St. Pauli Kirche im Fokus. Denn sie hat 80 Menschen vorübergehend Zuflucht gewährt. Hinzu kommen zahlreiche Fälle von Kirchenasyl im ganzen Bundesgebiet. Auch die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie engagieren sich traditionell stark in der Flüchtlingsarbeit, mit zahlreichen Beratungsstellen und Unterstützerkreisen in Kirchengemeinden. Natürlich könnte das alles noch intensiver sein, aber es ist doch nicht so, als würde die kirchliche Stimme nicht gehört.