Helen sucht verzweifelt ihren jüngeren Bruder. Die junge Frau ist aus Stuttgart nach Lampedusa gekommen. Sie stammt aus Eritrea, hat aber einen deutschen Pass. Ihr 27-jähriger Bruder Buruk war unter den Flüchtlingen auf dem Kutter, der vor einer Woche vor der italienischen Mittelinsel gekentert ist. Ist er ertrunken oder hat er überlebt?
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Helen hofft immer noch, dass ihr Bruder noch am Leben ist und vielleicht verletzt in einem Krankenhaus liegt. Überlebende des Unglücks haben ihr im Krankenhaus von Palermo auf Sizilien bestätigt, dass Buruk mit ihnen an Bord war. Nun sucht sie auf Lampedusa nach ihm. Begleitet wird sie von einer Schwester, die in Mailand lebt, und einem weiteren Bruder, der in London lebt.
Die Stadtverwaltung von Lampedusa bemüht sich, den Angehörigen zu helfen. Im Rathaus werden sie von Psychologen und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen begrüßt. Aber die Hoffnung, Buruk zu finden, schwindet schon nach den ersten Gesprächen. Auf Lampedusa gibt es kein Krankenhaus, das verletzte Überlebende des Schiffsunglücks hätte aufnehmen können. Helens ältere Schwester bricht mit einem Weinkrampf zusammen.
Ein Kreuz von Buruk
Doch Helen und ihre Geschwister wollen Gewissheit über den Verbleib von Buruk. Die Psychologen sorgen dafür, dass sie ins Flüchtlingslager von Lampedusa gefahren werden. Sie hoffen, dort Überlebende zu finden, die Buruk gesehen haben. Und möglicherweise werden sie den Vermissten anhand von Fotos der geborgenen Opfer identifizieren müssen.
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Das Lager heißt offiziell "Welcome Center" und ist von einem hohen Zaun umgeben. Die Einfahrt wird von Polizei und Carabinieri bewacht. Ein Beamter eskortiert die Geschwister ins Büro des Flüchtlingslagers. Dort werden ihnen Fotos vorgelegt. Und es wird rasch klar, dass Helen den Anblick der Toten auch auf Bildern nicht ertragen kann.
Ihre Schwester und ihr Bruder bleiben schließlich allein mit dem Beamten, doch unter den Geborgenen findet sich der Vermisste nicht. Derweil wird im Rumpf des nur eine halbe Seemeile vor Lampedusa gekenterten Schiffs noch immer nach 60 weiteren Vermissten gesucht.
Im Lager stehen Gruppen von jungen Menschen und Kindern vor allem aus Eritrea und Syrien auf der Straße zusammen oder essen auf dem Boden hockend aus Plastiktellern. Helen und ihre Geschwister treffen zahlreiche Landsleute. Ihnen legen sie Fotos ihres Bruders vor.
Einer von ihnen erkennt den jungen Mann wieder und zeigt Helen ein winziges Holzkreuz, das Buruk ihm auf der zwölftägigen Fahrt geschenkt hat. Als wäre es ein Lebenszeichen ihres Bruders, nimmt Helen das Kreuz und küsst es. Nachdem sie es lange in der Hand gehalten hat, gibt sie es dem jungen Mann zurück, der ihren Bruder zuletzt gesehen hat.
"Er ist umsonst gestorben, er war doch schon fast am Ziel"
Dann verscheucht die Polizei die Gäste aus dem Lager. "Sie dürfen sich hier nicht aufhalten", sagt der Beamte und geleitet Helen und ihre Geschwister bis vor das Tor.
Der Schicksalsgefährte bestätigt, was auch andere Überlebende erzählen. Zwei Fischerboote fuhren an dem Flüchtlingsschiff vorbei, ohne auf die Hilfeschreie zu reagieren. Die Besatzungen hatten vermutlich Angst, auf der Grundlage des italienischen Einwanderungsgesetzes wegen Begünstigung illegaler Einwanderung angeklagt zu werden, wenn sie Hilfe leisteten.
"Er ist umsonst gestorben, er war doch schon fast am Ziel", sagt Helen und kann gar nicht mehr weinen. "Ich muss ihn doch sehen." Sie will so lange in Lampedusa bleiben, bis die übrigen Leichen geborgen sind, um Gewissheit zu haben.