Die Festung Europa und das Geschäft mit den Flüchtlingen

Foto: dpa/Ettore Ferrari
Trostlose Aussicht: Ein aufgeriffener, illegaler Einwanderer in einem Übergangslager auf der italienischen Insel Lampedusa.
Die Festung Europa und das Geschäft mit den Flüchtlingen
Das ganze Ausmaß der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa zeichnet sich allmählich ab: Am Montag zog die Küstenwache weitere Tote aus dem Wrack des gesunkenen Kutters. Trotz Warnungen von Flüchtlingsorganisationen bezahlen Menschen tausende Euro an Schlepperbanden, in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Norden. In Deutschland und Europa ist jetzt eine Diskussion darüber entbrannt, wie solche Katastrophen in Zukunft verhindert werden können.
07.10.2013
evangelisch.de
Janek Rauhe

Nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa haben Taucher am Montag weitere Leichen aus dem Rumpf des gesunkenen Schiffes geborgen. Bis zum Nachmittag des 7. Oktober wurden 211 Tote gezählt, weitere sollen noch in dem Schiff liegen. Gegen die 155 Überlebenden wird wegen Verstoßes gegen italienische Einwanderungsgesetze ermittelt, bestätigte die italienische Regierung. Am Dienstag wollen sich die EU-Innenminister bei ihrem Treffen in Luxemburg mit Konsequenzen aus dem Flüchtlingsdrama vor der Mittelmeerinsel beschäftigen.

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Der gesunkene Kutter war vom libyschen Misurata aus gestartet. Mitverantwortlich für die wachsende Zahl von Migranten, die Lampedusa ansteuern, ist nach Darstellung des italienischen Flüchtlingsrates die unstabile politische Lage in Libyen. Die libysche Regierung habe keine ausreichende Kontrolle über das eigene Territorium, sagte der Leiter der Hilfsorganisation Christopher Hein in Rom. Milizenführer, die einzelne Küstenabschnitte kontrollierten, machten gemeinsame Sache mit Schlepperbanden, die die Überfahrten für die Flüchtlinge organisierten.

Hein beklagte, dass die Lage der Flüchtlinge im Durchreiseland Libyen katastrophal sei. Eritreer oder Somalier hätten dort ständige Angst davor, unter menschenunwürdigen Umständen in Abschiebezentren inhaftiert zu werden.

Die EU müsse deshalb ihre Handelsbeziehungen zu Libyen künftig von einer Verbesserung der Lage der Migranten abhängig machen. "Wir können nicht Erdgas und Öl aus Libyen importieren und gleichzeitig schweigend zusehen, wie die Situation in den dortigen Abschiebezentren ist", sagte der Leiter des Flüchtlingsrates.

Die meisten Überlebenden der Schiffskatastrophe vor Lampedusa haben nach Einschätzung Heins Anrecht auf humanitären Schutz. Dafür müssten sie jedoch zunächst ein Asylverfahren durchlaufen.

Schlepperbanden verlangen bis zu 10.000 Euro

Nicht nur in Libyen nutzen Schlepperbanden das Schicksal der Flüchtlinge aus. Für den kurzen Seeweg von der Türkei nach Griechenland müssten Flüchtlinge bis zu 2000 Euro zahlen, berichtet Günter Burkhardt von Pro Asyl im Gespräch mit evangelisch.de. Deutschland beteuere zwar, Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, in der Türkei müssten allerdings viele Menschen Monate lang ausharren. "Viele sehen dann keine andere Möglichkeit, als mit gefälschten Pässen einzureisen", sagte Burkhardt. Die falschen Unterlagen würden bis zu 10.000 Euro kosten.

Särge mit ertrunkenen Flüchtlingen in einem Hangar des Lampeduser Flughafens.

Das Geld für die Schlepperbanden leihten sich viele Flüchtlinge bei ihren Familien. Dabei sei nicht einmal sicher, ob sie wirklich nach Europa gebracht würden, sagte Burkhardt. Viele Schlepperbanden hielten die Flüchtlinge etwa auf dem Sinai in Ägypten gefangen. Dort würden sie Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen und ihre Verwandten um Lösegeld für die Gefangenen erpresst.

Trotz dieses Risikos seien viele Menschen aus Verzweiflung bereit, die gefährliche Flucht zu versuchen. "Sie haben die Wahl, vor Europas Grenzen zu Grunde zu gehen, oder mit 20 Prozent Todesrisiko nach Europa zu kommen", sagte Burkhardt. Europa habe sich zur Festung entwickelt und abgeschottet. Dies sei gerade von Deutschland vorangetrieben worden, auch wenn Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) dies bestreite. Die gefahrlose Einreise von Flüchtlingen nach Europa müsse gewährleistet werden, forderte Burkhardt. Zudem sollte Europa einen gemeinsamen Seenotsrettungsdienst einrichten.

UNHCR warnt in Heimatländern vor Überfahrt

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht sich ebenfalls für ein einfacheres Asylverfahren für Flüchtlinge in Europa aus. Deutschland müsse sein Gewicht in Brüssel für ein faires und effizientes Asylverfahren in Europa einsetzen, forderte Rouven Brunnert, Sprecher des deutschen UNHCR-Büros in Berlin im Gespräch mit evangelisch.de. Einwanderungsbestimmungen sollten "flüchtlingsfreundlich" interpretiert werden. Italienische Gesetze gehörten abgeschafft, nach denen es Fischern aufgrund von Einwanderungsbestimmungen verboten sei, Flüchtlinge aus dem Wasser zu retten.

Es sei ein Zeichen der Verzweiflung, dass immer wieder Menschen, die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagten, sagte Brunnert. Viele Flüchtlinge erhofften sich in Europa eine bessere Zukunft. Das UN-Flüchtlingshilfswerk warne in den Heimatländern der Flüchtlinge über Lautsprecheransagen und Radioansprachen vor Schleppern und der gefährlichen Flucht. Dennoch sei der Wunsch bei vielen Menschen groß, ihr Glück in Europa zu versuchen. Der Forderung Auffanglagern in Libyen und anderen afrikanischen Mittelmeeranrainern einzurichten, erteilte Brunnert eine Absage: "Niemand ist dort willens, in einem Camp zu leben." Die Menschen seien auf der Durchreise und würden zunächst in den großen Städten unterkommen, bevor sie die Flucht über das Mittelmeer versuchen würden.

Brunnert warnte auch davor, nur Italien im Blick zu haben. Die Situation in den EU-Staaten Malta, Zypern und Griechenland sei ebenfalls dramatisch. Italien habe zudem, anders als Griechenland, ein funktionierendes Asylsystem. In Griechenland würden die Menschen hingegen inhaftiert und nicht fair behandelt. Daher sei ein europäisches Regelwerk nötig.

"Deutschland muss zusätzliche Menschen aufnehmen"

Am Mittwoch berät EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit italienischen Behördenvertretern auf Lampedusa über das Flüchtlingsunglück. Barrosos Reise solle die Unterstützung und Solidarität Europas widerspiegeln, erklärte die EU-Kommission in Brüssel.

EU-Parlamentspräsident Schulz sagte der "Bild"-Zeitung vom Montag: "Es ist eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen hat." Die Flüchtlinge müssten in Zukunft gerechter auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden. "Das heißt auch, dass Deutschland zusätzliche Menschen aufnehmen muss", unterstrich Schulz.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert hob dagegen hervor, Deutschland leiste bei der Aufnahme von Flüchtlingen das, was seiner Größe und Bevölkerungszahl in Europa entspreche. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums ergänzte, dass Italien im vergangenen Jahr 15.000 Asylbewerber aufgenommen habe, während es in Deutschland 65.000 gewesen seien.

Derweil machte der Bürgermeister von Rom, Ignazio Marino, das Angebot, alle Überlebenden des Unglücks in seiner Stadt aufzunehmen. Auch die katholische Kirche will sich um Unterkünfte kümmern: Sie prüft, ob sie einen Teil der Überlebenden in ungenutzten Räumen von Klöstern unterbringen kann. Papst Franziskus werde über die Lage auf Lampedusa vom polnischen Kurienerzbischof Konrad Krajewski unterrichtet, der auf der Insel Hilfsmöglichkeiten auslote, teilte der Vatikan mit.