Regisseur Tim Trageser hat schon in vielen Filmen bewiesen, dass er eine ganz besondere Fähigkeit besitzt: Es gelingt ihm immer wieder, mit Hilfe vorzüglicher Darsteller aus kleinen Anlässen große Filme zu machen. Dank eines gern episodischen Erzählstils entwickelt sich die eigentliche Geschichte oft eher im Hintergrund. Vordergründig wirken gerade seine Dramen oft wie Themenfilme: über die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ("Harte Brötchen", 2002), über Behinderte ("Einer bleibt sitzen", 2008) oder desillusionierte Lehrer ("Die Lehrerin", 2011). Zuletzt hat Trageser mit "Mandy will ans Meer" (2012) gezeigt, wie man eine soziale Geschichte erzählt, ohne ein Sozialdrama draus zu machen.
Zu fit für den Ruhestand
"Willkommen auf dem Land", Tragesers vierte Zusammenarbeit mit Autorin Laila Stieler (hier auch Producerin), ist auf den ersten Blick eine Komödie: Ein Ehepaar verlässt Berlin und kauft sich für den Lebensabend ein Haus in Mecklenburg-Vorpommern. Rita (Senta Berger) träumt seit ihrer Kindheit vom Landleben, Leo (Günther Maria Halmer), erfolgreicher Manager-Coach, soll endlich zur Ruhe kommen. Aber die Dinge entwickeln sich nicht wie gewünscht: Leo fühlt sich viel zu fit für den Ruhestand und rettet sich in Sarkasmus, die Nachbarn verhalten sich gegen über den Wessis regelrecht feindselig, und dann parkt Leos Tochter auch noch die heranwachsende Enkelin bei ihnen; gerade Leo kann mit dem pummeligen Mädchen überhaupt nichts anfangen.
Die Handlung ist eine Aneinanderreihung von Miniaturen: viele kleine Momente aus einem Eheleben, die jeder für sich kaum der Rede wert sind, sich unterm Strich aber zu einer Beziehung summieren, in der aus unausgesprochenen Hoffnungen und Sehnsüchten längst Enttäuschungen geworden sind. Dennoch vermeiden es Stieler und Trageser mit großem Geschick, diese Szenen einer Ehe zu dramatisieren. Der Hintergrund ist zwar ernst, aber trotzdem ist "Willkommen auf dem Land" eine Komödie. Gerade Senta Berger gelingt es, Ritas stilles Unglück sehr beiläufig in kleinen Gesten und Blicken zu vermitteln.
Günther Maria Halmer ist dagegen eher für die komödiantischen Anteile zuständig. Gerade Leos regelmäßige Missgeschicke spielt er allerdings unnachahmlich. Wunderbar, wie er vor Wut in eine Reklametafel aus Pappe tritt und prompt mit dem Fuß stecken bleibt; selbstredend klingelt mitten in dieser misslichen Lage sein Telefon. Ohnehin gelingt es Buch und Regie, das Landleben als Verkettung unglücklicher Umstände darzustellen, ohne die Häufung je übertrieben wirken zu lassen; und das, obwohl Leo den Job als Leiter des Außenpostens seiner Firma einem anderen überlassen und sich stattdessen im Rahmen eines Seminars mit unvermittelbaren Langzeitarbeitslosen auseinandersetzen muss. Dass er in handwerklichen Dingen völlig unbegabt ist, aber alles besser weiß, führt zudem zu diversen kleineren und größeren Katastrophen, die Trageser mit wunderbar lakonischem Humor inszeniert. Dass Halmer die Kunst beherrscht, mit kleiner Mimik große Wirkung zu erzielen, kommt diesen komischen Momenten ganz erheblich zugute. Senta Berger wiederum schafft es, dass die stets verständnisvolle Rita allen auf die Nerven geht, aber trotzdem sympathisch bleibt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ähnlich gut wie die beiden Hauptrollen sind Stieler und Trageser die Nebenfiguren gelungen. Zunächst scheinen die wortkargen Dorfbewohner mit großer Hingabe sämtliche Klischees der ostdeutschen Landbevölkerung zu erfüllen, aber je mehr sich gerade Leo auf seine Arbeitslosen einlässt, desto liebenswerter werden sie. Auch das ist typisch für die Filme Tragesers: Seine Protagonisten sind keine Klischeefiguren, sondern richtige Menschen mit Ecken und Kanten.