Als in der Nacht zum 4. September 2009 aufgrund eines deutschen Befehls in der Nähe von Kunduz über 140 Menschen starben, war klar: Man kann nicht an einem Krieg teilnehmen und trotzdem versuchen, sich irgendwie rauszuhalten. Vor zwei Jahren hat das ZDF die Ereignisse schon einmal in Form eines Dokudramas rekonstruiert ("An einem Tag in Kunduz - Der tödliche Befehl). Nun gibt es das flammende Inferno auch auf Arte bzw. im "Ersten". Realisiert hat "Eine mörderische Entscheidung" Raymond Ley, hierzulande einer der ausgewiesensten Spezialisten für Docufiction-Filme über Ereignisse, die Geschichte machten; zu seinen vielfach ausgezeichneten Arbeiten zählen unter anderem "Die Kinder von Blankenese", "Eichmanns Ende", "Eschede - Zug 884" oder "Die Nacht der großen Flut".
Offizier als Sympathieträger
Natürlich ist "Eine mörderische Entscheidung" wie alle Werke dieser Art eine Spekulation auf der Grundlage von Tatsachen; authentisch sind allein die wortwörtlich protokollierten Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss sowie der Funkverkehr (die geheimen Protokolle wurden Ley zugespielt). Anders als zuletzt Joachim Langs multiperspektivischer Film "George" legt Leys Machart jedoch nahe, die Ereignisse hätten sich exakt so zugetragen. Und weil Matthias Brandt den verantwortlichen Offizier, der den tödlichen Befehl zur Bombardierung zweier gestrandeter Tanklaster gibt, als gebildeten und nachdenklichen Mann verkörpert, wird dieser Oberst Klein fast zwangsläufig zum Sympathieträger. Wenige Szenen genügen, um ihm ein feingeistiges Profil zu verleihen: Zu Beginn hört er klassische Musik, später, nach dem Bomberbefehl, bittet er Gott in der Lagerkapelle um Vergebung (Drehbuch: Raymond und Hannah Ley).
Ley nimmt einen langen Anlauf bis zur Todesnacht und zeigt zunächst ausführlich den Alltag im Lager, um die Atmosphäre zu charakterisieren: hier die Belastung der Soldaten (unter anderem Ludwig Trepte und Vladimir Burlakov), dort die von Skepsis bis zu offener Feindseligkeit reichende Haltung der Einheimischen. Interviews mit den Eltern eines erschossenen Soldaten tragen dazu bei, den enormen Stress zu verdeutlichen. Herzstück des Films ist schließlich die kammerspielartige Rekonstruktion der Schicksalsnacht, als Klein jene fatale Entscheidung fällt, die er später vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss rechtfertigen muss.
Dank der besonnenen Darstellung durch Matthias Brandt wirkt der Oberst wie jemand, der nur noch so tut, als ob er alle Fäden in der Hand halte, während er in Wirklichkeit längst den Überblick verloren hat. Die Versicherungen der Task-Force-Mitglieder, rund um die Tanklaster wimmele es nur so von bewaffneten Aufständischen, konterkariert Ley mit Bildern vom Fluss, wo sich unbescholtene Einheimische und ihre Kinder über das kostenloses Benzin hermachen; in eingeschobenen Interviews beschreiben die Angehörigen der Opfer ihre Wut und ihre Trauer. Die vergleichsweise kleinen Rollen der Task-Force-Männer sind mit Matthias Koeberlin und Franz Dinda gleichfalls sehr gut besetzt. Reizvoller sind allerdings die Auftritte von Axel Milberg als undurchschaubarer Vertreter des Geheimdienstes.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ley durchwirkt und ergänzt die Kunduz-Szenen um die ebenfalls nachgestellten Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss, bei dem die Beteiligten ihr Verhalten rechtfertigen (Klein wurde freigesprochen und später zum Brigadegeneral befördert). Zwischendurch kommen allerdings immer wieder auch die echten Protagonisten zu Wort, was mitunter etwas verwirrend ist, weil sich Brandt und sein Vorbild nicht nur optisch, sondern auch im Sprachduktus deutlich unterscheiden. Mit klarer Ausnahme des früheren Nato-Kommandeurs Egon Ramms tragen ohnehin längst nicht alle Interviews, die Ley einstreut, auch zur Wahrheitsfindung bei, zumal sich die Darbietungen der Selbstdarsteller an den herausragenden Leistungen der Schauspieler messen lassen müssen. Dennoch ist "Eine mörderische Entscheidung" ein Film von großer Relevanz und ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über Auslandseinsätze der Bundeswehr.