Das Ausmaß der Überwachung durch XKeyScore, Prism und Co. ist gigantisch: Etwa eine halbe Milliarde Kommunikations-Verbindungen überwacht der amerikanische Geheimdienst NSA in Deutschland, recherchierte der Spiegel Ende Juni. Monatlich. Für jeden irgendwie Verdächtigen werden die Daten von Millionen anderer Menschen mitanalysiert – die Kontakte der Kontakte der Kontakte, angelegt und abgespeichert von Bürgern in sozialen Netzwerken und auf ihren Telefonen. Millionen Bürger, die mitüberwacht wurden. Als Beifang von Verdacht.
Warum empören wir uns nicht?
Größere Bürgerproteste sind in Deutschland dennoch bislang ausgeblieben – obwohl das Thema Dauerbrenner in den Medien ist, immer weitere Verstrickungen ans Licht kommen, Verantwortlichkeiten zu klären sind. "Bislang berührte das Thema die Bevölkerung offenbar nicht so, dass es zu größeren Protesten führt", sagt Peter Ullrich, Forscher am Institut für Technik und Gesellschaft und am Institut für Protest- und Bewegungsforschung der TU Berlin. Das könne mit der Sommerferienzeit zusammenhängen, aber auch damit, dass die Überwachung fern und abstrakt scheint. Prinzipiell sei das Problembewusstsein der Deutschen für staatliche Überwachung seit dem 11. September durchaus gestiegen.
Aber als Bewohner eines Überwachungsstaates würden sie sich nicht sehen, "obwohl die BRD ihre Bürger massiv überwacht, wie immer wieder ans Licht kommt und auch jetzt klar ist, dass der deutsche Geheimdienst die gleiche Überwachungs-Software verwendet wie der amerikanische und umfangreich Daten weitergibt." Als Überwachungsstaaten würden eher nichtdemokratische Regierungen gesehen – auch aus der eigenen Vergangenheit: Der lauschende Stasi-Offizier scheint realistischer als der Mails scannende deutsche Polizist. Und das Mitlesen des amerikanischen Geheimdienstes ist vielleicht zu fern für große Empörung?
So funktioniert Indect
Dabei wird derzeit auch in Europa intensiv an Überwachungssystemen gearbeitet. Die Szenarien aus den Forschungsergebnissen des EU-Projekts Indect beispielsweise, finanziert mit mehr als zehn Millionen Euro von der Europäischen Union, gehen dabei noch weiter als die bekannt gewordenen Spähprogramme der Amerikaner. Indect steht für "Intelligentes Informationssystem zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Erfassung für die Sicherheit von Bürgern in städtischer Umgebung".
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Kern von Indect ist eine Plattform, die verschiedene Datenquellen zusammenführt, um potenzielle Gefahren schneller zu erkennen und verhindern zu können. Forscher aus Universitäten und Sicherheitsfirmen mehrerer EU-Länder entwickeln bei Indect Suchmaschinen, die anhand von Wasserzeichen Bilder und Videos auswerten und verwalten können. Außerdem werden automatische Suchroutinen erforscht, die "abnormes Verhalten" in öffentlich zugänglichen Internetseiten aufspüren.
Intelligente Überwachungskameras sollen Bewegungen analysieren, bei Verdacht können Personen durch Gesichtserkennung identifiziert und durch ferngesteuerte fliegende Drohnen mit Kameras verfolgt werden - vor allem an diesen entzündete sich in mehreren europäischen Ländern 2011 eine Mediendebatte, nach der das Forschungsprojekt einen Ethikrat einrichtete. Das Projekt wird Ende 2013 abgeschlossen.
"Jogging ist genauso verdächtig wie in der Bahn auf dem Boden sitzen"
"Mit Indect ist eine Totalüberwachung möglich", sagt Volker Münch von der bayerischen Piratenpartei, der das Forschungsprojekt auf "STOPP Indect" kritisch kommentiert. "Es verbindet die Daten aus sozialen Netzwerken mit denen aus Überwachungskameras und staatlichen Datenbanken." Und es durchforstet die Informationen nach Verdächtigem. Nur: Was ist "abnormales" oder "verdächtiges" Verhalten? "Das kann zu langes Sitzen auf dem Boden an öffentlichen Orten sein, Rennen, ein vergessenes Gepäckstück", sagt Münch. "Solche Faktoren wurden von den für Indect befragten Polizisten genannt – nach ihnen kann quasi jeder von den Computerprogrammen als verdächtig erkannt werden und den Überwachungsmechanismus in Gang setzen: Jogging in der Fußgängerzone ist genauso verdächtig wie in der Bahn auf dem Boden sitzen, weil man keinen Sitzplatz gefunden hat."
Es gehe darum, bessere Werkzeuge für Polizeien zu entwickeln, betonen die Forscher. "Abnormes" Verhalten werde als "kriminelles Verhalten" begriffen, "Verhalten, das mit terroristischen Anschlägen, Banküberfällen oder Mord zusammenhänge" – wie das konkret aussehen soll, bleibt unklar.
Ein Orwellscher Überwachungsstaat sei nicht zu befürchten, weil gar kein zentrales EU-weites Indect-System geplant sei, betonen die Projektverantwortlichen und klagen über falsche Berichterstattung. Es würden keine Überwachungskameras installiert, die es nicht schon gibt. Vorhandene Überwachungssysteme würden durch Indect lediglich verbessert. Mit Indect hätte es die Loveparade-Katastrophe nicht gegeben, so die Verantwortlichen. Terror- und Verbrechensabwehr in begrenzten Situationen, darum gehe es Indect. Und sowieso sei Indect nur ein Forschungsprojekt: Die Anwendung seiner Ergebnisse obliegen dem jeweiligen Datenschutzrecht des Staates.
Uniformer, vorsichtiger, angepasster.
"Nach deutschem Datenschutzrecht ist Indect nicht zulässig, die verschiedenen Überwachungsdaten dürfen gar nicht einfach so miteinander verknüpft werden", sagt Pirat Volker Münch. Aber: "Wenn die Technik erforscht und getestet wurde, wird sie auch jemand anwenden", glaubt Peter Ullrich von der TU Berlin. "Es kommt auf die gesellschaftliche Reaktion an, ob Teile von Indect auch in Deutschland möglich sind." Auch der Demokratieforscher Wolfgang Gründinger ist überzeugt, dass die Indect-Forschung nicht rein theoretisch bleiben wird.
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Flächendeckend angewendet ist sie für ihn der Albtraum jedes Datenschützers und jeder Bürgerrechtsbewegung. "Wenn man schon verfolgt werden kann, weil eine Maschine eine als verdächtig eingestufte Bewegung registriert, wird sich das Verhalten von Menschen ändern", sagt Gründinger. Uniformer, vorsichtiger, angepasster.
Ein fernes Zukunftsszenario? "Bei der digitalen Strafverfolgung verschiebt sich durch die immer besseren Überwachungsmöglichkeiten schon seit Jahren das Paradigma hin zu präventiver Verfolgung", sagt Matthias Monroy, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro von Andrej Hunko (Linke) zum Thema Innere Sicherheit arbeitet. "Und Prävention setzt immer früher an: Verdächtig ist man immer schneller." Es gebe in vielen EU-Ländern nationale Forschungsprogramme mit ähnlichen Inhalten wie Indect, sagt Monroy. "In der Regel sind Sicherheitsfirmen daran beteiligt, die die Forschungsergebnisse danach nutzen dürfen und das mit Sicherheit auch tun."
"Ich habe nichts zu verbergen ... "
Schon jetzt benutzt die Polizei in mehreren Bundesländern bei Fußballspielen Drohnen mit Kameras, inzwischen werden sie zum Beispiel in Sachsen auch bei Demonstrationen eingesetzt. "Wir müssen im Auge behalten, ob sich die Indect-Szenarien nicht doch Schritt für Schritt mit deutschem Recht vereinbaren lassen", sagt Monroy. Peter Ullrich von der TU Berlin meint: "Der Staat braucht keinen realen Grund mehr, um jemanden zu verfolgen, da die Definition von Verdacht sich verändert."
Gut überwachbar sind heute die meisten Menschen: Wir helfen sogar bei der Überwachung und finden das normal, sagt Polizeiexperte Monroy. "Wir legen Freundes- und Kontaktlisten in sozialen Netzwerken und Apps, machen Privates im Netz öffentlich." Das sei für viele Bürger normal geworden. "Vielleicht bleibt auch deshalb der große Aufschrei wegen der NSA-Spionage aus", sagt Monroy. "Ich habe nichts zu verbergen, deshalb habe ich nichts zu befürchten" – das glauben viele Menschen. Solches Verhalten schützt nicht davor, als Verdächtiger präventiv durchleuchtet zu werden.