Es hat eine Weile gedauert, bis sich für Lisa Wagner eine Rolle fand, mit der sie an ihre herausragende Arbeit in "Nie wieder frei sein" anknüpfen konnte. In dem Ende 2010 ausgestrahlten "Tatort" aus München spielte sie eine junge Anwältin, die an ihrem Mandat, der Verteidigung eines mutmaßlichen Mörders, verzweifelt. Es gab gleich mehrere Auszeichnungen für die damals 31 Jahre alte Schauspielerin, darunter den Grimme-Preis und den Bayerischen Fernsehpreis. In "Gestern waren wir Fremde" hat sie endlich Gelegenheit zu zeigen, dass die damalige Leistung kein Einzelfall war. Großen Anteil an ihrer bemerkenswerten Verkörperung einer jungen Ingenieurin, die sich in den falschen Mann verliebt, dürfte Matthias Tiefenbacher haben ("Das Haus meines Vaters", "Halbe Hundert", "Stille Post"). Er verfügt über zwei Stärken, die ihn aus der Vielzahl guter Fernsehregisseure herausheben: weil er Geschichten, die im Grunde vorhersehbar sind, oft überraschende Seiten abgewinnt; und weil er gerade seine Hauptdarstellerinnen regelmäßig zu Höchstleistungen führt.
Vom Donner gerührt
Beides gilt auch für "Gestern waren wir Fremde". Worauf der Film (Drehbuch: Martin Kluger, Mauree Herzfeld) hinausläuft, ahnt man spätestens, als die Mutter der Hauptfigur wie vom Donner gerührt ist: Sophie Ferber (Wagner) hat einen neuen Freund, Max (André Szymanski), doch als ihre Mutter den jungen Mann beim Überraschungsbesuch erblickt, stürzt sie zu ihrem Auto, hat auf regennasser Straße prompt einen Unfall und stirbt kurz drauf im Krankenhaus; Ende des ersten Aktes. Der Film wirkt zwar auch zuvor nicht wie eine jener Romanzen, die ebenso unterhaltsam wie rasch vergessen sind, da beispielsweise Sophies ruppiger Vater (Thomas Thieme) mehrfach den Fluss der Handlung unterbricht, aber anfangs deutet nichts darauf hin, dass die Geschichte ausgesprochen dramatische Züge annehmen wird. Gerade den Anfang inszeniert Tiefenbacher angenehm anmutig und wie eine Hommage an Robert Altmans "Shortcuts", als sich die einander noch unbekannten Protagonisten am Münchener Hauptbahnhof über den Weg laufen. Kurz drauf stellt sich raus, dass der wohlhabende Max Seefeld Sophies neuer Nachbar ist, in den sie sich gegen ihren Willen verliebt.
Im zweiten Akt lebt der Film natürlich auch von der Frage, warum Sophies Mutter so konsterniert war und was sich hinter den kryptischen Andeutungen ihres Vaters verbirgt. Im Vordergrund steht jedoch die Romanze, in deren Verlauf Sophie allerdings auf Hinweise stößt, die man als Zuschauer eindeutig zu deuten weiß. Prompt nimmt die Beziehung pünktlich zum Schluss des Mitteldrittels ein abruptes Ende, als Vater Ferber beim Besuch in der traumhaft am Chiemsee gelegenen Sommerhütte der Seefelds ähnlich schockiert reagiert wie kurz vor ihrem Tod seine Frau.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Während Anna Maria Sturm als Max’ Schwester kaum mehr als dekorative Stichwortgeberin ist, bleibt die Arbeit der Hauptdarsteller haften. Die etwas spröde und keineswegs auf rasche Sympathie ausgerichtete Art, mit der Lisa Wagner die junge Sophie anlegt, steht in deutlichem Gegensatz zu den austauschbaren Heldinnen, die sich sonst in den Produktionen der ARD-Tochter Degeto tummeln. Sehenswert ist auch André Szymanski, der den Max sehr zurückgenommen und sparsam spielt. Der grandiose Thomas Thieme schließlich adelt ohnehin jede Rolle und versieht Sophies etwas grobschlächtigen Vater mit einer eher spür- als sichtbaren Verletztheit, die sehr anrührend ist.