Christen aus dem Iran: "Neue Fische" in Neukölln

Foto: epd-bild / Jens Schulze
Christen aus dem Iran: "Neue Fische" in Neukölln
Weil sie vom Islam zum Christentum übergetreten sind, mussten sie aus ihrer Heimat fliehen. Nun besuchen junge Iraner eine kleine Gemeinde in Berlin Neukölln. Eine Bibelstunde mit Menschen, die wissen: Christsein kann das Leben kosten.

Rollbergviertel, Neukölln: Der große Zeiger der Wanduhr ist schon über die volle Stunde gerückt, bis neun jungen Männer und Frauen mit Tee, Kaffee und Keksen an den Tischen sitzen. "Orientalische Pünktlichkeit", sagt Schwester Rosemarie und lächelt. Die Diakonisse leitet eine landeskirchliche Gemeinschaft. Das Gemeindehaus sieht aus wie hundert andere: Seminartische mit hellen Holzbeinen, Gesangbücher im Schrank und an der Wand ein Poster vom Kawohl-Verlag.

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Aber hier passiert etwas, das auch Schwester Rosemarie überrascht hat. Die Gemeinde wächst. Schnell. "Jede Woche kommen neue Leute", sagt sie. Früher gehörten zur Gemeinschaft nur wenige, ältere Menschen, dann kam erst eine iranische Christin und allmählich wurden es immer mehr. 111 Namen stehen inzwischen auf der Mitgliederliste, mit Kuli hat Schwester Rosemarie vergangene Woche schon wieder drei neue ergänzt. Sie kommen ebenfalls aus dem Iran und haben in Deutschland Asyl beantragt. Einmal wöchentlich veranstaltet Schwester Rosemarie eine Bibelstunde nur für sie.

Bibelstunde mit Schwester Rosemarie.

Die Diakonisse versucht, so verständlich wie möglich zu sprechen. Die Bibelstunde ist gleichzeitig Glaubenslehre und Deutschunterricht. In beidem sind die Teilnehmer schon Fortgeschrittene, einige kommen bereits seit zwei Jahren.

Thema heute: Der Apostel Paulus verabschiedet sich von den Ephesern. Die Teilnehmer schlagen ihre Bibeln bei der Apostelgeschichte auf. Gelesen wird reihum, jeder einen Vers. Der Text ist voller schwieriger Wörter: Anfechtungen, Bedrängnisse, Angesicht – Deutsch lernen mit der Lutherübersetzung. Schwester Rosemarie will keine andere, weil sie findet: "Der Koran ist auch nicht leicht."

Taufe nur für den Asylantrag?

Im Iran ist es verboten, vom Islam zum Christentum überzutreten. Wer es doch tut, dem droht sogar die Steinigung. Die christliche Hilfsorganisation "Open Doors" führt das Land auf dem Index der Christenverfolgung unter den ersten zehn. Trotzdem sind die Iraner, die nun hier in der Bibelstunde sitzen, Christen geworden – durch Bekannte oder Untergrundkirchen.

Viele der Christen haben sich zur Taufe neue Namen gegeben. "Martin" und "David" sind dabei sehr beliebt.

Religiös waren die meisten vorher nicht, Muslime eher aus Tradition. Fragt man sie, warum sie Christen wurden, hört man ein Glaubensbekenntnis: "Jesus macht mich glücklich. Ich habe nur Gott. Das ist alles für mich", sagt David. Martin sagt: "Jesus ist der Sohn von Gott, er ist für unsere Schuld gestorben, er ist unser Tröster." David und Martin hießen ursprünglich anders. Bei ihrer Taufe in Deutschland haben sie sich einen christlichen Vornamen gegeben.

In den Asylbewerberheimen in Berlin haben sich die Christen aus dem Iran untereinander schnell kennengelernt. Bringt ein Gemeindemitglied jemand Neues mit, sagt es: "Ich habe neue Fische." Eine Anspielung auf Petrus, den Menschenfischer. Nach Deutschland sind die iranischen Christen gekommen, weil sie ihren Glauben hier frei leben dürfen.

Sie erzählen bereitwillig ihre Geschichte, auf Deutsch oder – wenn die Wörter ausgehen – auf Englisch, weil man ihnen geraten hat, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Es würde sie schützen, sollte auch hier jemand versuchen, sie wegen ihres Übertritts anzugreifen.

Weiter im Text der Apostelgeschichte: "Was sind 'Älteste'?" fragt Schwester Rosemarie. "So wie ein Chef", sagt eine Frau. "Ja", sagt Schwester Rosemarie, "aber in der Gemeinde gibt es keinen Chef, wir sind alle Schwestern und Brüder." Das klingt auch in dem durch, was die iranischen Christen erzählen: "Die Gemeinde ist meine Familie. Ich bin nicht fremd", sagt Martin.

"Manchmal sind die Wege Gottes auch schwer", erklärt Schwester Rosemarie.

Viel Zeit verbringen die iranischen Christen in der Gemeinde - donnerstags, samstags und sonntags kommen sie hierher. Ein neues Leben müssen sie sich in Deutschland erst aufbauen. Sie besuchen Sprachkurse, gehen zu Ämtern oder nehmen Fahrstunde.

Habib, 36, der im Iran als Verkäufer gearbeitet hat, hat gerade eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Er schläft auf einer Decke auf dem Fußboden, weil er noch keine Möbel hat. Auch darüber wird in der Bibelstunde kurz gesprochen. Die Gemeinde hat sich durch die neuen Mitglieder verändert. Im Gottesdienst saßen die iranischen Christen anfangs in den hinteren Reihen, nach und nach sind sie weiter nach vorne gerückt. Heute sitzen "alte" und "neue" Christen nebeneinander, es gibt mehr schwarzes Haar als Silberköpfe.

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Sonntags ist der Gottesdienstsaal voll. Wer zu spät kommt muss sich einen Stuhl suchen. Die neuen Christen helfen beim Abendmahl, übernehmen die Lesung, sammeln die Kollekte ein oder singen im Chor.

Häufig wird die Diakonisse gefragt, ob die Iraner Christen geworden seien, um in Deutschland Asyl zu bekommen. Das verneint sie. Alle hätten  Familie und gute Berufe gehabt:  Auf der Gemeindeliste steht hinter ihren Namen: Ingenieur, Elektriker, Verkäufer. "Das gibt man doch nicht auf, wenn es nicht unbedingt sein muss", sagt Schwester Rosemarie.

Martin ist mit seiner Entscheidung glücklich.

Martin, 34, lächelt stolz, als er erzählt, dass er zwei Masterabschlüsse und einen MBA hat. Religiös war er nicht. Bis ein katholischer Freund mit ihm über Jesus sprach. "Er half verstehen", sagt Martin, "aber das hat acht Jahre gedauert." Elf Mitarbeiter hatte er bei seiner Arbeitsstelle, drei Monate musste er ihnen nach seiner Flucht Gehalt überweisen, bis sie eine neue Arbeit gefunden hatten. Lange Telefonate in den Iran verschlangen ebenfalls Geld. In Deutschland darf Martin bislang nicht arbeiten.

Als er aus dem Iran floh, war seine Frau schwanger. Vor wenigen Tagen hat sie eine Tochter bekommen, er kennt den Säugling nur von den Fotos auf seinem Smartphone. Während er mit dem Daumen über das Gesicht auf dem kleinen Bildschirm wischt, sagt er, Frau und Tochter bei sich zu haben, sei das einzige, was er jetzt noch von Gott wolle. Seine Familie sei ihm wegen des Glaubenswechsels nicht böse. "Sie wissen, ich treffe gute Entscheidungen", sagt er. Seinen Übertritt zum Christentum bereue er nicht: "Ich habe Gott. Ich habe eine sehr gute Zeit mit Gott". Weil er davon nicht genug bekommen kann, besucht er jeden Sonntag gleich drei Gottesdienste, zwei iranische und den der landeskirchlichen Gemeinschaft.

Schwester Rosemarie erklärt den Bibeltext: "Der Heilige Geist hat Paulus gesagt: Jetzt musst du nach Jerusalem. Und Paulus musste gehorchen", sagt sie, "Wenn Gott etwas sagt, kann man nicht, wie man will. Oder man ist ungehorsam." Die Anwesende nicken. Sie fragt: "Wer von Euch kann zurück in den Iran?" Niemand hebt die Hand. Schwester Rosemarie: "Manchmal sind die Wege Gottes auch schwer. Paulus weiß das. Trotzdem geht er."

Am Ende der Bibelstunde betet die Gruppe das Vaterunser. Erst auf Deutsch, dann auf Persisch.

 

Dieser Artikel wurde bereits am 11. Oktober 2013 auf evangelisch.de veröffentlicht.