Zwar könne man Franziskus selbst nicht als Befreiungstheologen einordnen, räumte der Catholica-Referent des Konfessionskundlichen Instituts der evangelischen Kirche im südhessischen Bensheim in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) ein. Aber als pastoral agierender Mensch mit einer "sozialen Kante" benutze er Vokabular dieser in den 1960er Jahren in vielfältigen Ausformungen entstandenen christlichen Basisbewegung. Wiederholt habe er darauf hingewiesen, dass er eine Kirche an der Seite der Armen wolle.
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Sein Herz für die Menschen am Rand der Gesellschaft habe Franziskus bereits als Erzbischof in Buenos Aires gezeigt, wo er die Priester in den Wellblechhütten-Slums besonders unterstützte, fügte Bräuer hinzu. Franziskus sei geprägt von der für Argentinien typischen "Theologie des Volkes" (Teologia del pueblo). Diese in Argentinien entwickelte Spielart der Befreiungstheologie sei – anders als in anderen lateinamerikanischen Staaten, wie etwa Brasilien und Chile, wo die Befreiungstheologie mehr aus einer marxistisch und sozialistisch geprägten Sozialanalyse entstanden sei – sei mehr durch die politische Bewegung des Peronismus geprägt gewesen.
Das Denken von Papst Franziskus sei geprägt vom Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln, unterstrich Bräuer. Dies sei auch Prinzip der Befreiungstheologie: Erst auf die soziale Situation der Menschen schauen, darüber nachdenken und schließlich das Notwendige in die Tat umsetzen. Auf seine Initiative hin sei auch das Abschlussdokument der Tagung lateinamerikanischer Bischöfe im brasilianischen Aparecida im Jahr 2007 von diesem Gedanken geprägt. In diesem Dokument werde dazu aufgerufen, an die Ränder zu gehen und die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Das Papier, welches in Lateinamerika inzwischen kirchenhistorische Bedeutung hat, sei auch von der Wertschätzung der Volksfrömmigkeit und der Spiritualität des Volkes geprägt. Diese Spiritualität des Volkes spielt auch für Papst Franziskus eine zentrale Rolle.
Lehrer Bergoglios begründete "Theologie des Volkes"
Für seinen 2012 gestorbenen theologischen Lehrer Lucio Gera, dem Begründer der "Theologie des Volkes" und gemeinsam mit dem Peruaner Gustavo Gutiérrez einer der Väter der Theologie der Befreiung, hielt er noch als Erzbischof vor seiner Wahl zum Papst die Totenmesse. Er setzte gegen den Widerstand von vielen durch, dass Gera in der Bischofsgruft der Kathedrale von Buenos Aires beigesetzt wurde, erinnerte Bräuer.
Wegen seines lateinamerikanischen Erfahrungshintergrundes unterscheide sich Jorge Mario Bergoglio von seinem Vorgänger Papst Benedikt XVI. Doch auch Benedikt sei am Ende seiner Amtszeit mit der Befreiungstheologie etwas "lockerer umgegangen". Vor allem weil durch den Fall des Eisernen Vorhangs der Marxismus generell in den Hintergrund trat und auch die Militärdiktaturen in Lateinamerika abgelöst wurden, unterstrich Bräuer.
Seligsprechungsverfahren für Oscar Romero
Noch Johannes Paul II. (1920-2005) habe auf Grund seiner Erfahrungen im Ostblock der marxistisch orientierten Ausrichtung der Befreiungstheologie kritischer gegenübergestanden. Dennoch hätten sowohl Johannes Paul II. wie Benedikt XVI. in ihren Sozialenzykliken die "Option der Armen" betont und damit auch Anleihen bei der Theologie der Befreiung genommen.
Bräuer rechnet damit, dass Papst Franziskus das bereits Mitte der 1990er Jahre eröffnete Seligsprechungsverfahren für Oscar Romero, welches der Vatikan bisher hinausgezögert hatte, wieder neu aufnehmen und beschleunigen wird. Der Erzbischof von San Salvador galt als Anwalt der Armen und wird weltweit von vielen Gläubigen als "Heiliger und Märtyrer" verehrt. Romero war am 24. März 1980 mitten in einem Gottesdienst ermordet worden. Die Hintergründe der Tat sind bis heute nicht aufgeklärt.