Die soziale Kraft der Musik

Foto: Salzburger Festspiele/Nohely Oliveros
Junge Musiker aus Venezuela geben ein Geigenkonzert während den Salzburger Festspielen. Sie stammen aus armen Familien und bekommen durch die Musik eine neue Perspektive.
Die soziale Kraft der Musik
Die Salzburger Festspiele - das ist mehr als ein Schaulaufen der Hochkultur. Junge Musiker aus Venezuela sollen in diesem Jahr zeigen, wie Musik zur Lebensperspektive wird. Ihre Ausbildung kann auch ein Beispiel für Europa sein.
24.07.2013
epd
Wilhelm Roth

Gustavo Dudamel aus Venezuela ist in den vergangenen Jahren zum Star geworden. Obwohl erst 32 Jahre alt, dirigiert er von Wien bis Los Angeles berühmte Orchester. Vor allem aber ist er die Symbolfigur für den Erfolg der musikalischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen in seinem Heimatland. 400.000 Kinder, meist aus armen Familien, besuchen dort Musikschulen - und müssen nichts dafür bezahlen. Und in diesem Jahr sorgen sie sogar für einen Höhepunkt auf den Salzburger Festspielen: Sechs Orchester und Chöre aus Venezuela kommen mit 1.300 Kindern und Jugendlichen nach Salzburg. In der Zeit vom 24. Juli bis 11. August geben sie insgesamt 14 Konzerte.

Erfinder dieser Musikausbildung ist der 1939 geborene Komponist, Dirigent und Ökonom José Antonio Abreu. 1975 gründete er das "Venezolanische Jugendorchester Simón Bolívar", benannt nach dem Freiheitskämpfer des 18. Jahrhunderts.

Aus dieser Keimzelle entwickelte sich ein weit verzweigtes System von Musikschulen und Orchestern, "El Sistema" genannt. So wurde auch Gustavo Dudamel musikalisch ausgebildet. 1999, mit 18 Jahren, war er bereits Chefdirigent des Jugendorchesters Simón Bolívar.

Musik gibt Kindern und Jugendlichen eine Perspektive

Für Abreu ist die Musik "die reichste aller Künste". Sie kann, so seine Überzeugung, Kindern eine Lebensperspektive geben - besonders denen, die in den von Gewalt beherrschten Armenvierteln aufwachsen.

###mehr-artikel###"El Sistema ist ein weltweit einmaliges Beispiel dafür, wie weitreichend Musik eine Gesellschaft verändern kann", urteilt auch die Salzburger Festspielleitung. "Wir in Europa drohen zu vergessen, welch wichtige Rolle das gemeinsame Singen und Musizieren in der Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen spielt". So könne das Vorbild "El Sistema" auch all jenen neuen Ansporn geben, die in Europa an Schulen und Musikschulen für den Erhalt des Musikunterrichtes kämpften.

In dem arte-Dokumentarfilm "El Sistema" von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier aus dem Jahr 2009 sieht man, wie die Kinder in den Musikschulen geradezu aufblühen. Die Beschäftigung mit Musik ist für sie keine Nebensache. Vormittags gehen sie in die Schule, jeden Nachmittag aber in die Musikschule. Grundprinzip der Ausbildung ist es, von Anfang an mit anderen zusammen zu singen und zu musizieren, auf die anderen zu achten und zu hören.

Schon die Dreijährigen bilden ein Orchester, zunächst allerdings mit Geigen und Celli aus Pappe und Papier. Auch so lernen sie die Instrumente kennen, die Arbeit des Dirigenten, die Noten, den Rhythmus, die Melodien - die Musik müssen sie noch singen. Aber schon einige Monate später bekommen sie dann richtige Instrumente.

Programm ist Vorbild für andere Länder

"Armut bedeutet Einsamkeit, Traurigkeit, Anonymität", sagt Abreu, "ein Orchester bedeutet Freude, Motivation, Teamarbeit, das Streben nach Erfolg." Musik als soziale Kraft: Abreu gelang es, die Regierungen, ob im rechten oder linken Lager, von diesem Programm zu überzeugen und es zu finanzieren. El Sistema ist folgerichtig nicht im Kultur-, sondern im Sozialministerium angesiedelt, das etwa 29 Millionen Dollar jährlich dafür aufwendet.

Rund zwei Millionen Kinder haben bisher an diesem Programm teilgenommen, das für viele Länder zum Vorbild wurde. Zur Zeit gibt es 286 Musikzentren mit 1.500 Lehrern, weit über 100 Jugendorchestern und gut 50 Kinderorchestern. Da viele der Jugendlichen tatsächlich Musiker werden, existieren inzwischen auch 30 Sinfonieorchester. Als Abreu anfing, waren es zwei.

Musik für jeden

Für sein Engagement ist Abreu weltweit geehrt worden, in Deutschland erhielt er 2005 den Bundesverdienstorden und 2009 den Frankfurter Musikpreis. In Salzburg wird er die Eröffnungsrede der Festspiele halten, die traditionell eine kulturpolitische Grundsatzrede ist.

###mehr-links###Das Programm, das die Venezolaner mitbringen, zeigt die Vielfalt und Qualität der Ausbildung. Das Simón Bolívar Symphony Orchestra - inzwischen ohne Jugend im Namen - führt unter der Leitung von Gustavo Dudamel drei Mahler-Sinfonien und Mozarts C-Moll-Messe auf. Sogar das jüngste Orchester, das Kinderorchester, spielt bereits eine Sinfonie von Gustav Mahler, die Erste. Dirigent ist Simon Rattle, der Leiter der Berliner Philharmoniker.

Das bewegendste Konzert dürfte aber wohl der Auftritt des "White Hands Choir" werden. Die Musikausbildung in Venezuela wendet sich auch an körperlich und geistig Behinderte. Hier sind es taubstumme Kinder. Dirigiert von ihrem Lehrer, fühlen sie sich mit Gebärdensprache in die Lieder ein, die nebenan ein Chor singt. In weißen Handschuhen folgen ihre Hände dem Rhythmus der Musik, vollführen einen Tanz. Das "Ave Maria" gefalle ihr am besten, sagt ein Mädchen aus dem "White Hands Choir": Da fliegen die Hände geradezu.