"Junge Flüchtlinge sind Kinder zweiter Klasse"

Foto: epd-bild/mck
Jugendliche Flüchtlinge in der Clearingstell im oberbayerischen Erding. In der dortigen Wohngruppe finden unbegleitete, minderjährige Asylsuchende eine erste Anlaufstelle in der Fremde.
"Junge Flüchtlinge sind Kinder zweiter Klasse"
Einige deutsche Behörden machen offenbar aus Jugendlichen Erwachsene
Minderjährige Flüchtlinge brauchen besonders viel Unterstützung. Doch Hilfsorganisationen werfen den Behörden vor, den Jugendlichen bewusst Leistungen vorzuenthalten. Vor allem in Bayern und Hamburg soll diese rechtswidrige Praxis verbreitet sein.
18.07.2013
epd
Hanna Jochum

In großen Lettern steht "Home, sweet Home" über der Eingangstür der Clearingstelle im oberbayerischen Erding. In der Wohngruppe finden unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge eine erste Anlaufstelle in der Fremde. Zu den meist traumatisierten Bewohnern gehören auch Ali und Kholi (Namen geändert). Die beiden Jungen aus Afghanistan werden hier von Ärzten untersucht, bekommen einen Vormund, psychologische Unterstützung und drücken die Schulbank.

###mehr-info###So viel Glück hatte Najibullah (Name geändert) nicht. Der 16-jährige Afghane wurde mit Erwachsenen in einem Massenquartier, der Münchner Bayernkaserne, untergebracht. Denn die zuständigen Sachbearbeiter schätzten sein Alter auf 18 Jahre. Damit war Najibullah plötzlich volljährig. Erst nach der Intervention des Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge konnte er seine Ansprüche als schutzbedürftiges Kind geltend machen.

Keine rechtsstaatlichen Standards

Nach Angaben des Fachverbands in Berlin ist Najibullahs Fall keine Seltenheit. "Minderjährige Flüchtlinge können in Deutschland ihre Rechte nur eingeschränkt wahrnehmen", heißt es in einem Bericht zur Umsetzung von Kinderrechten. Ihre Identität werde missachtet, vielfach werde auf rechtsstaatliche Standards verzichtet. "Manchmal wird durch bloßes Ansehen der Jugendlichen das Alter bestimmt. Das ist doch absurd", sagt Mitarbeiterin Judith Costa. Im Zweifel entscheide eine Behörde gegen die Flüchtlinge. Liege das geschätzte Alter beispielsweise zwischen 17 und 21 Jahren, werde die Obergrenze genommen: "Junge Flüchtlinge sind Kinder zweiter Klasse."

Immer mehr junge Menschen suchen Schutz in Deutschland, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berichtet. Im vergangenen Jahr beantragten 2.096 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Asyl. 2008 waren 763 Anträge gestellt worden.

Vor allem in Bayern soll es viele Jugendliche geben, in deren Papieren ein falsches Geburtsdatum steht. Und immer macht sie dieses Datum älter als 18 Jahre. Das geht aus einem internen Papier der Inneren Mission München hervor, die die Bewohner der Bayernkaserne betreut. Die Regierung von Oberbayern prüft die Anschuldigungen. Ein Sprecher versichert: "Nach unserem Konzept gibt es keine Willkürentscheidungen."

"Erwachsene kann man überall hinstecken"

Das sieht der Münchner Flüchtlingsanwalt Hubert Heinhold anders: Das Rezept gegen überfüllte Sammellager sei, aus Kindern Erwachsene zu machen. Ein jugendlicher Asylbewerber koste den Staat bis zu 9.000 Euro im Monat, ein Erwachsener nur rund 1.000 Euro. "Es gibt nicht genügend Jugendhilfeeinrichtungen. Erwachsene kann man überall hinstecken, im Notfall auch in eine Garage", sagt der Vizevorsitzende von Pro Asyl. Die Klagen über diese Behördenpraxis kenne er auch aus Hamburg.

###mehr-links###Dort verzeichnet der zuständige Landesbetrieb Erziehung und Beratung eine stetige Zunahme an minderjährigen Flüchtlingen. Waren es 2007 noch 20, wurden 2012 schon 623 junge Asylsuchende versorgt. Nach deren Ankunft wird im Durchschnitt gut die Hälfte für volljährig erklärt. In diesem Jahr liegt ihr Anteil bei knapp 70 Prozent, wie ein Bericht vom Mai offenlegt.

Conni Gunßer vom Hamburger Flüchtlingsrat ist empört über die Praxis zur Altersbestimmung. Als Indikator für das Erwachsensein diene eine ausgeprägte Stirnfalte oder üppige Behaarung: "Und dann landen die Jugendlichen irgendwo mitten im Wald im Lager und dürfen nicht mehr in die Schule gehen."

Dass es auch anders geht, beweisen die Behörden in Brandenburg. Die gesetzliche Regelung sieht dort vor, Flüchtlinge ab 16 Jahren in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Eisenhüttenstadt unterzubringen. "Die ist aber hoffnungslos überfüllt und die Betreuung ist indiskutabel", erzählt Mathilda Killisch von "Alreju" in Fürstenwalde, einer Spezialeinrichtung der Diakonie für junge Asylsuchende ohne Begleitung. Deshalb schickten die Jugendämter auch ältere Betroffene ganz unbürokratisch zu Alreju: "Bei uns sind sie nämlich gut aufgehoben."