Die Anrede der E-Mail ist geschrieben. Aber was nun? "Wie komme ich denn jetzt in die nächste Zeile?", fragt Maria Bode. Ihr Blick huscht zwischen Tastatur, Bildschirm und Maus hin- und her. Und genau wie beim Erstellen eines neuen Dokuments oder der Groß- und Kleinschreibung kann Christoph Wiche ihr auch bei diesem Problem helfen. "Einfach die Enter-Taste drücken." Im Alltag braucht er selbst Hilfe, hier ist er der Experte. Ob die 71-Jährige das auch alleine geschafft hätte? "Nö, sicherlich nicht", sagt die Rentnerin.
###mehr-artikel### Dass die beiden Düsseldorfer sich kennen gelernt haben und die Seniorin nun mit Hilfe lernt, ihren Laptop zu benutzen, verdanken sie dem bundesweit einmaligen Projekt "Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben", kurz Piksl. Im Oktober 2011 eröffnete in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt das Piksl-Labor. Hier begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderung, Forscher diverser Fachrichtungen, Studierende für Design oder Informatik und Neugierige aus der Nachbarschaft. Ihr gemeinsames Ziel: von und miteinander lernen. "Menschen mit Behinderung haben besondere Fähigkeiten im Identifizieren von Barrieren", sagt Benjamin Freese, der das Piksl-Labor mit Unterstützung von drei Mitarbeitern leitet. Diesen Vorteil will sich die inklusive Denkfabrik der gemeinnützigen GmbH "In der Gemeinde leben" (IGL), die Menschen mit Handicaps unterstützt, zu Nutze machen.
Menschen mit geistiger Behinderung als Partner und Experten
"Die Idee kam von den Klienten selbst", sagt Projektleiter Tobias Marczinzik. Überall wird gechattet und gemailt, die Betreuten hätten Sorge gehabt, dabei auf der Strecke zu bleiben. Im Piksl-Labor sollen sie lernen, eigenständig mit Computern und dem Internet umzugehen. Ihr Wissen geben sie zum Beispiel in den PC-Kursen an Senioren weiter. Sie helfen aber auch Wissenschaftlern, Entwicklern und Designern dabei, Assistenzsysteme zu schaffen und Kommunikationstechnik zu vereinfachen und barriereärmer zu machen. Menschen mit geistiger Behinderung werden zu Partnern und Experten.
Mit Studierenden der FH Düsseldorf erarbeiten sie unter anderem eine Bildzeichensprache. Die Idee: Wer nicht lesen und schreiben kann, baut Wörter aus Symbolen zusammen. Ein Auto und ein Haus werden beispielsweise zu einem Autohaus. Mithilfe eines Programms, das den generierten Text vorliest, könnten die Nutzer überprüfen, ob die Software verstanden hat, was sie ausdrücken wollen. Mit wenigen Klicks könnten auch Analphabeten so Texte schreiben.
Doktoranden der Universität Bielefeld kamen nach Düsseldorf, um einen virtuellen Assistenten vorzustellen und zu testen. Der Avatar "Billie" sieht aus wie ein kleiner Junge und hilft Menschen mit Handicap einen Kalender zu führen, Termine zu organisieren und so das Leben in den eigenen vier Wänden zu erleichtern. Überschneiden sich beispielsweise zwei Aktivitäten, weist "Billie" die Nutzer darauf hin. An insgesamt zehn interdisziplinären Projekten haben die Laboranten bislang mitgewirkt.
"Wir wollten eine Arbeitsumgebung schaffen, die sich anpasst"
Der helle Raum des Labors wirkt futuristisch und heimelig zugleich. Die Wände strahlen in Weiß, an der Decke sind sternförmig Neonröhren angebracht und immer wieder tauchen die Farben Grün, Türkis und Blau auf. Statt einer Garderobe wurden einfach weiße Kleiderbügel an blauen Seilen befestigt. In der Mitte des Raums sind Computer, Bildschirme, Laptops und Tablet-PCs aufgebaut. Schon die Gestaltung des Raumes haben Menschen mit Behinderung gemeinsam mit Designern übernommen. Dabei entstand gleich das erste Produkt: Mo. Der robuste Tisch hat Rollen, seine Arbeitsplatte ist höhenverstellbar. "Wir wollten eine Arbeitsumgebung schaffen, die sich anpasst", sagt Freese. Nicht nur die Entwicklung war inklusiv, die Tische werden auch in einer Behindertenwerkstatt produziert.
###mehr-links### Auf den Fotos im dazugehörigen Werbeflyer ist Elisabeth Hermanns zu sehen. Die 44-Jährige ist bei fast allen Aktionen des Labors dabei, auch als Dozentin beim Computerkurs für Senioren. "Computer konnte ich am Anfang gar nicht", sagt die Düsseldorferin. "Jetzt weiß ich, wie ich bei Facebook reinkomme." Den Kursteilnehmern zeigt sie auch "wie sie den Computer anmachen, mit Skype telefonieren oder Smilies schicken". Ein weiteres Projekt, das sie voller Stolz vorzeigt: die selbstgestaltete Zeitung des Trägers IGL. Das Schweinchen auf der aktuellen Titelseite hat sie selbst gemalt, im Innern finden sich gleich mehrere Artikel von ihr. Dabei kann die Düsseldorferin weder lesen noch schreiben. Die Texte entstehen gemeinsam mit Benjamin Freese. Der notiert sie handschriftlich oder am Computer. "Dann tippe ich alles ab und speichere auch." Demnächst sollen die Laboranten die Zeitung selbst layouten. Was wäre, wenn es Piksl nicht geben würde? "Dann wäre es langweilig", sagt Hermanns. Etwa 50 Menschen mit Behinderung kommen jede Woche in das Labor. Neben den Seniorenkursen stehen auch Computer- sowie digitale Spieletreffs und natürlich Projektarbeit auf dem Wochenprogramm.
Lernen im eigenen Tempo
Auch Christoph Wiche ist "praktisch immer hier". 20 Stunden pro Woche verbringt er in seinem "zweiten Zuhause", schätzt er. Bei der Hausarbeit in seinem ersten und bei "Papierkram" wird er von einem IGL-Betreuer unterstützt. Mit Computern umzugehen, hat er sich gemeinsam mit seinem Bruder beigebracht. "Am Anfang eines Kurses wird mit den Teilnehmern besprochen, was sie denn eigentlich lernen möchten", berichtet der 43-Jährige. Vor jedem Treffen diskutiert er mit dem Laborleiter mögliche Themen und Aufgaben.
Maria Bode gefällt besonders, dass sie hier in ihrem eigenen Tempo lernen kann. "Ich brauche halt etwas länger", sagt die Seniorin. Heute will sie neben dem E-Mail-Schreiben auch noch eine Reise vorbereiten. Sie fährt an die Ostsee. "Auf der Strecke suche ich noch Hotels." Die 71-Jährige lebt in der Nähe des Labors und hatte schon neugierig verfolgt, was sich in dem Ladenlokal tut. Aber erst der Aushang mit dem Computerkurs-Angebot in einer benachbarten Apotheke führte sie in das Piksl-Labor. "Für mich sind die Behinderungen kein Thema", sagt Bode. "Die Menschen hier sind wie sie sind. Jeder ist so wie er ist."
Finanziert wird das mehrfach ausgezeichnete Projekt durch die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW. Es ist zunächst auf drei Jahre angelegt, bis zum Sommer 2014. Die Initiatoren wollen gerne weitermachen. "Wir würden gerne Arbeitsplätze schaffen und einen Weg finden, wie die Menschen auch finanziell von dem Projekt profitieren können", so Freese. Maria Bode hofft zunächst auf eine Fortsetzung des Computer-Kurses. "Ich möchte nämlich gerne wiederkommen", sagt die Seniorin. "Du kannst immer wieder kommen", bietet Christoph Wiche sofort an. "Gut, dann bringe ich Kuchen mit."