Jede Medaille hat ihre Kehrseite, und kein Ereignis bleibt ohne Folgen. Bereits der Titel von Pavel Kohouts Roman "Die lange Welle hinterm Kiel" verdeutlicht die Parabelhaftigkeit der Handlung. Dabei beginnen Buch und Film wie eine der üblichen Kreuzfahrtgeschichten, selbst wenn sich diese hier im Jahr 1990 zuträgt: Die Passagiere kommen an Bord, und zwei erfahrene Mitglieder der Besatzung tauschen böse Kommentare über ihre Gäste aus. Aber schon bald weicht die heitere Atmosphäre bitterem Ernst: Margarete Kämmerer (Christiane Hörbiger), deren Reichtum es ihr erlaubt, alle nur erdenklichen Gemeinheiten ausleben zu können, ist wie vom Donner gerührt, als sie am Tisch hinter sich eine altvertraute Stimme vernimmt. Dort sitzt Martin Burian, der 1945 für die Erschießung ihres ersten Mannes Sepp verantwortlich war. Margarete will Rache; und sie hat eine Pistole.
Die Schattenseiten einer Person
Im Unterschied zum Buch kann ein Film auf ganz andere Weise mit Figuren spielen. Das beginnt schon mit der Besetzung. Weil Burian von Mario Adorf verkörpert wird, nimmt man ihn zunächst als sympathischen älteren Herrn wahr. Durch das Wissen um seine Vorgeschichte ändert sich der Blick naturgemäß; plötzlich entdeckt man die Schattenseiten dieser Figur. Aber Autor Klaus Richter und Regisseur Nikolaus Leytner treiben das Spiel noch weiter. Margarete Kämmerer ist in Begleitung ihres Großneffen Sigi (Christoph Letkowski), dem sie einen seltenen Einblick in ihr Gefühlsleben gestattet, als sie ihm erzählt, was sich damals zugetragen hat, als die Tschechen 1945 nach der Befreiung durch die Rote Armee blutige Rache an den Sudetendeutschen nahmen. Entsprechende Rückblenden untermauern ihre Sicht der Ereignisse, und Rückblenden dürfen einem ungeschriebenen Gesetz zur Folge nicht lügen. Geschickt nutzt Leytner allerdings das gleiche Bildmaterial, um ähnlich wie Akira Kurosawa in seinem Meisterwerk "Rashomon" zu beweisen, dass nicht die Bilder über Lüge und Wahrheit entscheiden, sondern die Perspektive. Burian ist in Begleitung seiner Schwiegertochter Sylva (Veronica Ferres). Sigi, ohnehin angetan von der älteren Frau, zieht sie ins Vertrauen, und nun erfährt man die andere Seite: Für Margarete mag Sepp vor allem ihr geliebter Mann gewesen sein. Für den Tschechen Burian war er ein Nazi, der unter anderem seinen Bruder auf dem Gewissen hatte.
Richter stand bei seiner Adaption vor gleich zwei Herausforderungen: Wie der Roman, so durfte auch der Film keine Sympathie für die eine oder die andere Seite erkennen lassen. Vor allem deshalb war Kohout ja auf die Idee mit der Schiffsreise gekommen: Auf diese Weise hatte keine seiner beiden Hauptfiguren einen Heimvorteil. Gleichzeitig musste deutlich werden, dass beide, Tschechen wie Sudetendeutsche, sich auch heute noch unter dem Einfluss längst vergangener Trugbilder befinden, wie der Schriftsteller im Nachwort seines Romans schreibt. Fast noch entscheidender aber war eine zweite Aufgabe: Richter und natürlich auch Leytner mussten unbedingt vermeiden, dass Margarete Kämmerer und Martin Burian Herolde einer Botschaft und somit Statisten eines Thesenfilms werden.
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Dass ihnen dies gelungen ist, hat naturgemäß auch mit den Darstellern zu tun. Margarete wird als Frau eingeführt, deren Lebenselixier ihre Bosheit zu sein scheint: Das ist nun wahrlich keine Herausforderung für Christiane Hörbiger, solche Kratzbürsten hat sie gerade in den letzten Jahren zur Genüge verkörpert. Doch der Panzer bricht ja, und mit den Konturen, die man nun wahrnimmt, gewinnt auch die Figur an Tiefe. Gleiches gilt für Mario Adorf; das darstellerische Kräftemessen zwischen diesen beiden großen Schauspielern, die für diesen Film zum ersten Mal gemeinsam vor der Kamera standen, macht "Die lange Welle hinterm Kiel" zu einem ganz besonderen Werk. Da können Veronica Ferres und der junge Christoph Letkowski naturgemäß nicht mithalten, und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Repräsentanten der versöhnten Enkelgeneration der behaupteten Melancholie zum Trotz bei weitem nicht so ausgefeilt sind wie die beiden Hauptfiguren.