Beschwerdechor: Sie singen und beschweren sich

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Foto: Beschwerdechor Hildesheim
"Wir posaunen Ihre Beschwerde in die Welt hinaus", sagt die Leiterin des Beschwerdechors Hildesheim, Manuela Hörr.
Beschwerdechor: Sie singen und beschweren sich
Irgendwo muss der Frust ja hin. Warum also nicht einfach hinausschreien? Manuela Hörr packt mit ihrem Chor der etwas anderen Art Beschwerden in ein musikalisches Gewand und posaunt sie in die Welt hinaus.
02.07.2013
evangelisch.de

Ein Beschwerdechor - was soll das denn sein?

Manuela Hörr: Wir sind eine Gruppe Menschen, die Beschwerden musikalisch vortragen. Wer sich auch immer üebr eine Sache aufregt, kann uns das mitteilen, und wir machen ein dreiminütiges Musikstück daraus. So kanalisieren wir den Frust der Leute, sodass der nicht in einer Sackgasse steckenbleibt, sondern vom Beschwerdechor in Welt hinaus posaunt wird.

Was macht Ihren Hildesheimer Beschwerdechor besonders?

Hörr: Andere Protestchöre stehen wie ein Gewerkschaftschor am Straßenrand mit Alltagsklamotte und schlechtem Sound durch ein Megafon. Manche Chöre packen unzählige Beschwerden in ein Zehn-Minuten-Stück. Da wird dann ein Gemischtwarenladen aus der Sache. Ich will den Inhalt mit der Musik zusammenbringen. Da ich vom Theater komme, hatte mir das zu wenig Sexappeal.

Was ist Ihre Vision?

Hörr: Meine Sängerinnnen und Sänger sind ganz in Schwarz gekleidet. Damit ziehen wir eine Art Verkleidung über und aus dem Vorsingen wird eine Performance. Bei uns gibt es szenische Momente, wir singen mit besonders viel Ausdruck im Gesicht, haben Requisiten dabei, haben eine Choreographie und tanzen auch mal. Das hat außerdem den Vorteil, dass die einzelnen Sänger in eine andere Rolle schluüpfen und icht unbedingt hinter jeder Beschwerde stehen müsen.

"Ein klassischer Chanson zum Thema Hundescheiße"

Worüber beschweren sich die Leute so?

Hörr: Ein Komplex ist der Straßenverkehr, benachteiligte Radfahrer, komische Ampeln. Oder wir beschweren uns über die Sitzriesen im Kino, die ständig mit dem Popcorn rascheln und püktlich zu Filmbeginn aufs Klo müssen.

Beschweren geht überall, auch auf der Straße

Und was für Musik entsteht daraus?

Hörr: Jede Beschwerde bekommt ein eigenes musikalisches Gewand. Das reicht von rhythmischem Sprechgesang, ganz schlicht einstimmig zur Gitarre, bis hin zu Pop oder Reggae. Bei Straßenauftritten haben wir immer ein Saxophon dabei, manchmal trommelt einer. Wir haben aber auch einen klassischen Chanson mit Akkordeon zum Thema Hundescheiße.

Themen, die die Menschheit bewegen.

Hörr: Wir können auch große Politik. Wir beschweren uns über die Worthülsen der Politiker. Vieles dreht sich auch um Lokalpolitik: ein aus Sicht vieler Hildesheimer völlig unnützes Einkaufszentrum zum Beispiel. Eine Baumschutzgruppe hat sich an uns gewandt. Pflegen statt sägen rufen wir da.  Oder warum die Stadt jedes Mal anscheinend vom Windereinbruch überrascht wird und kein Streusalz auf Lager hat.

"Ein 70-Jähriger mit Sprechgesang zur Zukunft der Welt"

Das heißt, bei Ihnen kann jeder mitträllern.

Hörr: Ja, unbedingt. Unsere Mitglieder sind zwischen acht und über 70 Jahren. Manch einer hat davor noch nie gesungen. Ein paar der Jugendlichen, alle zwischen elf und dreizehn Jahre, spielen Instrumente und klagen darüber, dass die Menschen nicht mehr richtig reden können. Das Lied heißt "Boah, Alter, ey". Da kommt es dann zu einem musikalischen Battle zwischen den Jungen und den Erwachsenen.

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Das klingt nach großem Spaß statt verbitterter Traurigkeit.

Hörr: Wir nehmen uns auch ernste Angelegenheiten vor. Eines unserer Mitglieder ist über 70 Jahre. Er hat ein Gedicht geschrieben. Das trägt er jetzt im Sprechgesang vor und sinniert über alles, was ihm das Leben schwer macht. Er fragt sich, in welchem Zustand er die Welt seinen Enkeln übergibt. Wir wollen unterhalten, aber wir verraten kein Thema. Das heißt, wir tragen die Beschwerden theatral vor. Der Zuhörer soll die Brisanz und unsere Wut erkennen, wir lamentieren aber nicht. Unser Publikum soll gerne hinhören wollen. 

Hat das nicht etwas unheimlich negatives? Die Deutschen jammern und lamentieren doch sowieso schon die ganze Zeit. Muss man das jetzt auch noch mit Musik zelebrieren.

Hörr: Das dachten viele zu Beginn wirklich. Aber wir verschaffen vielen Leisen endlich ein Gehör. Zum Beispiel einer Bürgerinitiative hier in Hildesheim. In der wunderschönen Altstadt herrscht Halteverbot. Als die Anwohner wenigstens be- und entladen wollten, hat ein Herr in der Stadtverwaltung ihnen vorgeschlagen, sich Sackkarren anzuschaffen. Das war natürlich eine Steilvorlage für uns.

"Sackkarrenballett vor dem Rathaus"

Was haben Sie daraus gemacht?

Hörr: Wir haben uns vor das Rathaus gestellt und ein "Sackkarrenballett" aufgeführt.

Dafür hat doch bestimmt nicht jeder Verständnis.

Hörr: Stimmt. Wir haben ein Lied über die unsäglichen Fahrkartenautomaten der Bahn. Das wollten wir mal im Bahnhof vortragen. Da verstand die Bahn aber keinen Spaß und hat uns nicht hineingelassen. Mein Mann, der mit mir zusammen der Chor leitet, und ich bringen Expertise aus dem Theater mit, kennen uns in der Satrire aus. Klar, dass wir da einiges verschärfen und überhöhen. Wir haben ein offenes Ohr für die Belange der Bürger und sehen einen gesellschaftspolitsichen Auftrag.

Also singen Sie zwar für die Veränderung, aber keiner, der etwas ändern könnte, hört zu?

Hörr: Etwas zu verändern wäre natürlich ein schöner Nebeneffekt. Für November planen wir ein Konzert im Stadtthater. Dazu sind auch alle Politiker der Stadt eingeladen. Die haben hoffentlich Stift und Zettel dabei zum mitschrieben, worüber sich die Bürger so alles beschweren.