Hempelmann: "Dem Evangelium in den Milieus Gestalt geben"

Heinzpeter Hempelmann
Foto: Ev. Hochschule TABOR
Heinzpeter Hempelmann meint, die Kirche könne wachsen - wenn sie sich auf neue Milieus einlasse.
Hempelmann: "Dem Evangelium in den Milieus Gestalt geben"
"Wachsen gegen den Trend" ist möglich – wenn die Volkskirche ihre Fixierung auf bestimmte Milieus aufbricht und sich auch anderen Lebenswelten zuwendet. Das meint Heinzpeter Hempelmann, Theologe und Experte für die "Sinus-Milieus". Im Interview erklärt er seine Sicht auf die postmoderne Vielfalt und wie die Kirche mehr Milieus erreichen könnte.

Herr Professor Hempelmann, Sie arbeiten unter anderem für das "Zentrum für Mission in der Region". Was hat es damit auf sich?

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Heinzpeter Hempelmann: Unser Zentrum ist einer von vier Thinktanks, die die EKD in der Nachfolge des Reformprogramms "Kirche der Freiheit" ins Leben gerufen hat. Wir untersuchen, wie Kirche missionarisch wirken kann unter dem Gesichtspunkt einer Neustrukturierung – nämlich der Regionalisierung. Mit Region meinen wir den Kirchenbezirk (Dekanat) oder auch größere Einheiten, die eine gemeinsame regionale Identität haben – etwa den Ruhrpott oder die Schwäbische Alb.

Weshalb sollte ein solcher Umbau nötig sein?

Hempelmann: Wir leben heute in einer fragmentierten und segmentierten Gesellschaft. Und das setzt sich fort bis hinein in die Landeskirchen mit ihrem volkskirchlichen Anspruch. Aber vor Ort in den Kirchengemeinden dominiert bisher ein bestimmtes, einseitiges Milieu. Wenn die Kirche weiterhin den Anspruch hat, alle zu erreichen – zunächst einmal alle ihre Mitglieder – muss sie sich fragen, wie sie das besser tun kann als bisher. Dazu müssen wir erst mal unser gesellschaftliches Umfeld verstehen lernen und schauen, wie stark wir überhaupt daran teilnehmen. Und dabei kann uns das "Sinus-Modell" helfen.

Das Heidelberger Sinus-Institut hat zehn gesellschaftliche Milieus ermittelt und deren Mentalitäten und Lebensstile erforscht. Gemeinsam mit dem Institut haben Sie die evangelischen Landeskirchen von Baden und Württemberg untersucht. Was kam dabei heraus?

Hempelmann: Die zentrale Erkenntnis ist, dass wir von den zehn Milieus, die es in der Gesellschaft und auch unter den Kirchenmitgliedern gibt, im Grunde nur vier erreichen: das traditionsorientierte und das konservativ-etablierte Milieu sowie Teile der bürgerlichen Mitte und des sozial-ökologischen Milieus.

"Wir sollten die Gleichrangigkeit der Glaubenszugänge ernst nehmen"

Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?

Hempelmann: Das ist ein ganz starker Hinweis für eine Milieuverengung kirchlichen Handelns. Wenn man in der Kirche überwiegend diesen vier Milieus begegnet, hält man sie für die Norm und orientiert sich an ihren Bedürfnissen. Aber da stellt sich die Frage der Ressourcengerechtigkeit: Kirchensteuern zahlen alle, aber die meisten finanziellen und personellen Ressourcen fließen in die klassischen Ortsgemeinden. Es fehlt an Angeboten für die Kirchenmitglieder in anderen Lebenswelten – zum Beispiel für das Prekariat oder die postmodernen Milieus.

In welchem der zehn Sinus-Milieus würden Sie selbst sich verorten?

Hempelmann: Von meinem Lebensstil und meiner Mentalität her wohl am ehesten bei den "Performern". Ich bin hochmobil, verstehe mich eher als Beweger, weniger als Bewahrer der traditionellen Verhältnisse. Das wollte ich früher. Heute bin ich – auch durch meine Kinder – sehr aufgeschlossen gegenüber allem Modernen und sehr vielem Postmodernen: Technik, Internet, Musik. Aber das musste ich mir mühsam aneignen.

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Aus welchem Umfeld stammen Sie?

Hempelmann: Ich komme ursprünglich aus einer fundamentalistischen Freikirche, der Brüdergemeinde in der Tradition von John Nelson Darby. Da habe ich mich als junger Mann rausgekämpft. Mein Hauptproblem heute ist ein ganz anderes: Es gibt nicht "die" Vernunft, sondern nur individuelle Vernunftbegriffe. Ich kann mit guten Gründen postmodern, modern oder vormodern sein – solange ich meinen Standpunkt nicht verabsolutiere. Wir als Kirche sollten die Gleichrangigkeit dieser Zugänge zum Glauben ernstnehmen und uns gegenseitig bereichern. Wir können in allen möglichen Frömmigkeitsprägungen auf den lebendigen Gott der Bibel stoßen. Ich kann überall angerührt werden, wo etwas authentisch ist.

Wie erklären Sie diese postmoderne Pluralität Ihren teilweise evangelikalen Studenten an der Tabor-Hochschule in Marburg?

Hempelmann: Ich sage ihnen: "Denkt euch mal in die verschiedenen Ansätze hinein und merkt, dass ihnen sehr unterschiedliche Wahrheitskonzeptionen zugrunde liegen. Deren innere Logik zu kapieren, ist außerordentlich wichtig. Ich knacke damit mein Bewusstsein auf, dass nur ich der eigentlich Normale bin. Darüber werde ich demütig. Ich komme runter von dem hohen Ross, den einen Standpunkt innezuhaben, von dem aus ich alle anderen bewerten und ihnen sagen kann, wie sie sich zu verhalten haben." Und meine Studenten spüren, dass sie das gesprächsfähig macht und ihnen die Möglichkeit gibt, das Evangelium in allen möglichen Horizonten zu kommunizieren.

Wenn wir auf jene Lebenswelten schauen, die – Ihren Erkenntnissen zufolge – von der Kirche vernachlässigt werden: Wie könnten Angebote für sie entstehen?

Hempelmann: Da sollen die Pfarrer als Teamplayer auf regionaler Ebene zusammenarbeiten. Gemeinsam sind sie dafür zuständig, möglichst viele Milieus in ihrer Region zu erreichen. Jeder von ihnen spezialisiert sich – gemäß seinen persönlichen Gaben und entwickelt neue unkonventionelle Formate.

"Nicht nur Maultaschen und Kartoffelsalat, sondern auch Sushi mit Cocktails"

Sehr viele Pfarrer haben schon jetzt das Gefühl, eine "eierlegende Wollmilchsau" sein zu müssen. Sind solche neuen Erwartungen nicht eine komplette Überforderung?

Hempelmann: Wir sagen ihnen: Ihr müsst das nicht allein machen. Aber durch eure hochqualifizierte Ausbildung habt ihr den Blick für das Ganze. Ihr seid die Pluralitätsmanager. Ihr habt die Möglichkeit, Menschen beizuziehen, die als Brücken in Milieus fungieren können, zu denen ihr keinen Zugang habt.

"Pluralitätsmanager" - das ist ein ungewohntes Pfarrerbild.

Hempelmann: Von zentraler Bedeutung ist: Sie können methodisch alles Mögliche machen – aber das wird alles im Bereich der Theorie bleiben, solange Sie nicht persönlich engagiert sind. Sie müssen sich menschlich und liebevoll auf den anderen einlassen können und bereit sein, sich persönlich auch ein Stück zurückzunehmen. Liebe ist da ein entscheidendes Stichwort: Maßnehmen an dem Sohn Gottes, der selber in unser menschliches Milieu hineinkommt, seine göttliche Gestalt ablegt, Mensch wird wie wir. Das ist also auch ein Prozess, der mir weh tut, etwas von mir fordert.

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Aber übernehmen wir uns nicht bei so hochgesteckten Erwartungen an eine "innerkirchliche Mission"?

Hempelmann: Sicher, engagierter christlicher Glaube ist immer die Sache einer Minderheit gewesen – auch früher schon. Das werden wir vermutlich auch nicht ändern können. Das Ziel ist vielmehr, dem Evangelium in unterschiedlichen kulturellen Kontexten eine Gestalt zu geben. Und damit natürlich auch diese Kontexte ein Stück weit zu verändern, das gehört natürlich dazu.

Gesetzt den Fall, das gelingt: Zementieren wir so nicht die Grenzen zwischen den Milieus? Führt uns das nicht in kirchliche Parallelgesellschaften, in die Segregationskirche?

Hempelmann: Diese Segregation – nämlich die einseitige Milieukirche – gibt es ja jetzt schon! Ich möchte nur, dass es noch mehr gibt außer der einen.

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Aber hat nicht die Kirche einen anderen theologischen Anspruch? Nämlich als "Leib Christi" eine Einheit zu sein?

Hempelmann: Ja. Aber in Paulus' Bild vom Leib ist ja gerade enthalten, dass dieser Leib unterschiedliche Glieder hat. Das eine Glied muss nicht zum anderen Glied werden. Ein realistisches Zwischenziel wäre, dass sich alle Milieukirchen von Zeit zu Zeit mal gemeinsam treffen zum Feiern und zum Bekennen des gemeinsamen Gottes. Das kann zum Beispiel bei Gemeindefesten gelingen – wenn sie nicht zu einseitig kulturell geprägt sind. Wenn es also nicht nur Maultaschen und Kartoffelsalat gibt, sondern auch Sushi mit Cocktails.