Bibliolog - eine jüdische Methode

Foto: epd-bild/Christopher Clem Franken
Bibliolog - eine jüdische Methode
Die Berliner Jüdin Iris Weiss ist Bibliolog-Leiterin. In ihren Seminaren legen alle gemeinsam biblische Texte aus, indem sie sich in die Figuren hinein versetzen. Im Grunde ist das eine jüdische Methode: Die des Midrasch.

Mitten in der Woche haben sich rund ein Dutzend Menschen am frühen Abend nach Berlin-Wedding aufgemacht, um am "Interreligiösen Bibliolog" von Iris Weiss teilzunehmen. Sie kommen aus der ganzen Stadt. Manche reisen sogar extra aus dem Umland an, nur um diesen Termin ja nicht zu verpassen. Dabei passiert gar nichts Spektakuläres. Die Teilnehmenden sitzen die ganze Zeit im Stuhlkreis.

Heute geht es um das Eingangskapitel im Buch Ruth. Elimelech und Naemi sind mit ihren beiden Söhnen während einer Hungersnot aus Bethlehem zu den Moabitern geflohen. Die Söhne heiraten dort die Moabiterinnen Ruth und Orpa. Doch alsbald sterben die Männer der Familie. Die Schwiegertöchter müssen sich entscheiden, ob sie mit ihrer jüdischen Schwiegermutter Naemi nach Bethlehem zurückziehen wollen oder nicht.

Ruth geht mit, Orpa weint vier Tränen

Iris Weiss liest den Text vor und bittet die Teilnehmenden, sich in die jeweiligen Rollen hineinzuversetzen. Sie geht zu denjenigen, die etwas sagen wollen und wiederholt die Aussagen, damit es alle gut hören können. Die Teilnehmenden versetzen sich in die Rollen der Schwiegertöchter Ruth und Orpa. Sollen sie sich auf das fremde Land, auf die fremde Religion der Schwiegermutter, also auf das Judentum einlassen? Ruth macht diesen Schritt. Die Frauen in der Ruth-Rolle bekunden ihre Solidarität und ihre Liebe zu ihrer Schwiegermutter Naemi. Orpa will dagegen nicht mitgehen. Im Bibliolog schildern nun die Teilnehmenden ihre Gefühle und Empfindungen, als sie sich in die Rolle der Orpa hineinversetzen.

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"Ich kämpfe zu Hause mit dem Text, wenn ich ihn übersetze und bin müde. Durch den  Bibliolog werde ich aber sehr aufmerksam", sagt eine Pfarrerin hinterher. Und eine andere Teilnehmerin: "Ich finde das wesentlich lebendiger, den Text in einer Gruppe zu erarbeiten, als ihn alleine zu lesen. Es kommen so viele Facetten zum Tragen und ich erfahre ja den Text. Ich lese ihn nicht nur, sondern ich erlebe den Text."

Das Wort Bibliolog kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Worten "Biblios", also "Buch" oder "Bibel" und "Logos", also "Wort" zusammen. Es gilt als eine Neuentwicklung des Bibliodramas, bei dem eine Passage der Bibel von den Teilnehmenden dramatisch weiter entwickelt und dargestellt werden - das dauert oft Tage. Beim Bibliolog sollen die Teilnehmenden in etwa ein bis zwei Stunden etwas zum jeweiligen Text sagen, also ihr eigenes Logos mitteilen, ihre Meinungen und vor allem ihre Empfindungen ausdrücken. Es ist eine Methode, die vor allem in christlichen Gruppen, im schulischen Religionsunterricht und manchmal sogar in Gottesdiensten angewendet wird. Der Ursprung des Bibliologs aber ist jüdisch. Im Grunde steckt dahinter die Methode des Midrasch, der rabbinischen Textauslegung im Dialog.

"Whow, that was midrasch!"

Die Berliner Jüdin Iris Weiss hat sich in mehrjährigen Seminaren zur Bibliolog-Leiterin ausbilden lassen. Zum Bibliolog kommen kann jeder. Einzige Voraussetzung ist die Begeisterung für den Text und die Bereitschaft, sich in die Rollen des jeweiligen Textes hineinzubegeben. Dazu muss man weder religiös noch gläubig oder besonders vorgebildet sein. Den Bibliolog gibt es seit 25 Jahren, die Methode wurde in den USA von dem säkularen Juden und Psychodramatiker Peter Pitzele und seiner Frau Susan entwickelt. Pitzele vertrat damals seinen Mentor an einem Seminar für konservative Rabbinerinnen und Rabbiner. Es ging um die Seelsorgeausbildung im letzten Semester. Pitzele wusste, dass er mit Texten umgehen kann und Rollenspiele beherrschte. Er bat also die Studenten, Stellen aus der Thora herauszusuchen, in denen der Prophet Mose in Konflikte gerät. "Peter Pitzele hat sie dann in Rollen hinein gewiesen und sie haben in diesen Rollen geantwortet. Und am Ende dieser Stunde sagte dann einer der Studenten: Whow, that was midrasch!", erzählt Iris Weiss noch heute begeistert die Gründungsgeschichte des Bibliologs.

Pitzele entdeckte die neue Methode, die genau genommen eine sehr alte ist, sozusagen aus Zufall. Bibliolog ist im Grunde Midrasch, die traditionelle Form der rabbinischen Textauslegung. Zentral sind dabei die Begriffe des schwarzen und weißen Feuers. Gemeint ist damit, dass in der Thora-Rolle die schwarzen Buchstaben nur lesbar sind, wenn sie auf einem weißen Hintergrund stehen. Es geht darum, zu entdecken und zu erfahren, was zwischen den Zeilen steht. Denn im rabbinischen Midrasch wurde traditionell immer schon das diskutiert, was im Text, also im schwarzen Feuer nicht zu lesen ist und eben nur im weißen Feuer, in den Lücken zu finden ist. Die jüdische Tradition gehe eben davon aus, dass die Texte in jeder Generation neu ausgelegt werden müssen, erklärt Iris Weiss.

In jüdischen Gemeinden nicht so recht angekommen

Auch wenn die Bibliolog-Leiterin den interreligiösen Charakter ihrer Angebote hervorhebt, so will sie doch ganz bewusst als Jüdin den Bibliolog anbieten. Sie versucht, auf hebräische Wörter einzugehen und immer wieder Material aus der rabbinischen Textauslegung einzubeziehen. So ergänzt sie aus dem jüdischen Midrasch, dass Orpa vier Tränen weinte, als sie sich gegen ihre Schwiegermutter entschied. Eine Gefühlsregung, die der biblische Text nicht erwähnt.

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Zum Bibliolog kommen vor allem Frauen. Oft sind Pfarrerinnen und Religionslehrerinnen darunter, die diese Art der Textauslegung in ihre tägliche Arbeit mit einfließen lassen wollen. Aber es kämen auch überdurchschnittlich viele Teilnehmende aus jüdischen Familien, versichert Iris Weiss. Obwohl der Bibliolog im Grunde eine ur-jüdische Erfindung ist, sei die Methode in den jüdischen Gemeinden in Deutschland noch nicht so recht angekommen, bedauert sie. Vielleicht gibt es dort auch deshalb eine so große Scheu, weil der Bibliolog zunächst in christlichen Gruppen und Gottesdiensten begeistert aufgenommen wurde, vermutet die Bibliolog-Leiterin. Sie hofft aber, dass sich auch die hiesigen Rabbiner alsbald mit dieser modernen Form des Midrasch anfreunden können.