"Terrorismus ist eine Frage der Perspektive"

Überwachungskameras helfen auch nicht immer
Foto: dpa/Paul Zinken
Auch ständige Überwachung hilft nicht gegen jeden Terroristen - totale Sicherheit gibt es nicht. Und außerdem muss nicht alles immer gleich "Terrorismus" sein: Absicht und Motiv der Täter sind dafür entscheidend.
"Terrorismus ist eine Frage der Perspektive"
Seit dem 11. September 2011 ist "Terrorismus" zu einem Alltagswort geworden. Ereignisse wie der Bombenanschlag in Boston und die Ermordung eines Soldaten in London bekommen diesen Stempel fast sofort. Aber nicht jedes Verbrechen ist zugleich Terrorismus. Im Interview mit evangelisch.de erläutert Terrorismusforscher Stephan Humer, warum man genau hinschauen sollte, bevor man den Terror-Stempel auspackt.
24.05.2013
evangelisch.de

Wir hatten mit dem Bombenanschlag von Boston und den Mord in London zwei Ereignisse, die schnell Terrorismus genannt wurden. Wann ist ein Verbrechen Terrorismus?

Stephan Humer: Das ist schon die schwierigste Frage überhaupt. Terrorismus ist auch in der Wissenschaft nicht so millimetergenau definiert. Es immer eine Frage der Position. Wenn wir sagen, wir haben uns in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat auf bestimmte Standards geeinigt - zum Beispiel: terroristische Aktivitäten zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus - dann kann man das machen. Das ist aber immer aus der Perspektive desjenigen, der das festgelegt hat.

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Es gibt schließlich den bekannten Spruch: "Für die einen ist es Terrorismus, für die anderen ist es Freiheitskampf." Man hat sich aber im Wesentlichen darauf geeinigt, zu sagen: gezielte einzelne Aktionen gegen eine politische Ordnung, die Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten sollen, sind Terrorismus. Den Denkraum besetzen, die Leute verstören, das ist die klassische Definition von Terrorismus.

Das heißt, Terroristen wollen eine größtmögliche Öffentlichkeit erreichen, um die Menschen in der angegriffenen Gesellschaft zu verstören? 

Humer: Genau. Terroristen haben ja nicht die Möglichkeit, die Gesellschaft selbst komplett zu besetzen, anders als wenn eine Armee in ein Land einmarschiert. Dann versucht man es eben auf andere Art und Weise. Es hat ja immer wieder funktioniert, Angst und Schrecken zu verbreiten, das hat man in Deutschland mit der RAF gesehen oder auch im Nordirland-Konflikt. Das hatte Auswirkungen, die Taten waren ja nicht völlig wirkungslos. Aber Terroristen brauchen mediale Verbreitung, um eine Massenwirkung zu erreichen - denn sonst wird nicht klar, was das soll. Denn die Taten an sich, so böse und schlimm sie auch im Einzelnen sein mögen, reichen im Regelfall dafür nicht aus. Wenn ich sehe, höre oder lese, dass ein oder zwei Menschen getötet wurden, bekommt das durch den medialen Zusatz, dass es eine terroristische Aktion war, eine ganz andere Dimension.

"Es geht mindestens genauso viel Gefahr von Einzeltätern aus"

Wenn Medien und öffentliche Stellen es nicht Terrorismus nennen - ist es dann keiner? 

Humer: So einfach ist es in der Hinsicht natürlich nicht. Aber ein Ereignis bekommt dadurch eine andere Wertigkeit, weil der Begriff eindeutig besetzt ist im Sinne von: Das ist etwas ganz schreckliches, eben mehr als ein "gewöhnliches Verbrechen". Ich will keinem Politiker da was unterstellen, gerade auch gegenwärtig nicht, aber natürlich kann man das auch ausnutzen, wenn man es drauf anlegt. Man kann im Zuge des Labels "Terrorismus" Sicherheitsgesetze durchsetzen, die man mit normalen Verbrechen, die jeden Tag passieren können, nicht begründen kann. Es ist aber immer der berühmte Ritt auf der Rasierklinge, weil es sehr schwierig ist, das zu kontrollieren. Es kann auch sein, dass so etwas eine Eigendynamik bekommt und plötzlich gibt es irgendwo eine Bürgerwehr, die sagt, der Staat könne sie nicht schützen. So etwas ist sehr schwer bis gar nicht zu kontrollieren, und kein Politiker hat da eine hundertprozentige Kontrolle.

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Der Bombenanschlag von Boston und der Mord von London sind von Einzeltätern verübt worden, die den bisherigen Ermittlungsergebnissen nach nicht zu terroristischen Organisationen gehörten. Ist das ein neues Phänomen? Muss Terrorismus organisiert sein? 

Humer: Nein. Terrorismus muss nicht aus größeren Gruppen oder einer größeren Anzahl an Mitwirkenden bestehen. Ich würde sogar sagen, dass momentan der sogenannte "lone wolf"-Terrorismus, also diese "einsamen Wölfe", diese Einzelkämpfer, der sich vielleicht sogar vollständig selbst radikalisieren und dann zur Tat schreiten, mittlerweile eines der wichtigsten Anti-Terror-Felder ist, auf dem die Behörden tätig sind. Ich war ein paar Tage nach dem Anschlag in Boston und konnte vor Ort mit Leuten reden, die damit befasst waren. Da wurde klar gesagt: Das ist ein wichtiges Feld, weil es so schwer aufzuklären ist. Man muss sich Terrorismus sich nicht nur als gruppendynamische Aktion vorstellen. Es geht mindestens genauso viel Gefahr von Einzeltätern aus, die vielleicht nie in ihrem Leben Kontakt zu klassischen terroristischen Gruppen hatten.

Wie kann eine Gesellschaft, in der Freiheit und Bürgerrechte im Grundgesetz stehen, solchen Anschlägen begegnen? 

Humer: Grundsätzlich ist es so: Man kann manche Dinge nicht im Vorfeld aufklären, zum Beispiel wenn sich jemand spontan entschließt, jetzt und hier etwas zu machen, selbst wenn man ihn vielleicht sogar behördlich im Blick hatte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es absolute Sicherheit in diesen Fällen definitiv nie geben wird! Ein Phänomen, das viele Menschen nach dem 11. September 2001 erst lernen mussten ist, dass es Menschen gibt, die keinen Wert auf ihr eigenes Leben legen. Die sagen: Wenn ich bei dieser Aktion sterbe, umso besser, dann ist das etwas, was für mich aus Glaubensgründen zum Beispiel die ganze Sache noch reizvoller macht. Man will vielleicht auch gar nicht in die Richtung gehen, dass alles zu verhindern wäre, weil wir dann auch auf Freiheit verzichten. Man muss einfach akzeptieren, dass es eine Illusion ist, jeder terroristischen Bedrohung vorbeugend begegnen zu können.

"Das Kriminelle ist auf jeden Fall immer da"

Sie sagten, dass der Terrorist immer eine politische Motivation hat. Die Taten von Boston und London wurden sehr schnell in einen islamischen Kontext gestellt und dann "Terrorismus" genannt. Können Glaubensgründe ebenso wie politische Gründe eine Motivation für Terroristen sein?

Humer: Glaube und Politik sind meines Erachtens die zwei großen Motivationsfaktoren. Es gibt, wie in Nordirland, einen nationalen Terrorismus, der sich gegen "Besatzer" richtet, die man loswerden will. In Nordirland spielte der Glaube auch eine Rolle, aber es hat vor allem etwas Nationales. Man sieht aber an vielen Beispielen, dass das nicht so genau zu trennen ist. Bei Islamismus auch, da geht es nicht nur um Religion. Es ist schon immer eine sehr enge Verbindung da. Der Mord in London hatte ja auch was mit klassischer Politik zu tun: Der Attentäter hat gesagt, er kämpfe dagegen, dass in Afghanistan nicht-muslimische Truppen stationiert sind, die dann da Muslime töten. Das ist ein ganz enges Geflecht zwischen religiöser und nationalstaatlicher Motivation.

Ist Terrorismus also ein besonderes Verbrechen?

Humer: Vom Inhalt her unterscheiden sich viele Taten ja nicht. Wenn jemand rausgeht und bringt jemanden um, dann ist das ein Mord, es kann aber auch ein terroristischer Akt sein. Es bleibt deswegen trotzdem ein Mord. Das Kriminelle ist auf jeden Fall immer da. Ob es darüber hinaus noch zusätzlich terroristisch ist, ist vor allem eine Perspektive des Betrachters.