Das Inferno beginnt kurz nach 1.30 Uhr in der Nacht: Aus dem Haus einer türkischen Großfamilie in Solingen lodern in der Nacht zum Pfingstsamstag 1993 helle Flammen. Fünf Menschen kommen in der Feuersbrunst ums Leben, die rechtsradikale Brandstifter entfacht haben. Am 29. Mai jährt sich das folgenschwerste ausländerfeindliche Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte zum 20. Mal.
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Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen des heimtückischen Anschlags. Auch die damaligen Helfer und Nachbarn werden die Kinderschreie aus dem brennenden Haus nicht mehr vergessen. Eine 27-jährige Frau sprang mit ihrem Kind im Arm vor den Augen der Feuerwehr in den Tod, eine 18-Jährige und drei Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren erstickten und verbrannten in den Flammen. Acht Menschen wurden schwer verletzt.
Täter bekamen Höchststrafen
Das Bild vom Haus mit dem ausgebrannten Dachstuhl löste weltweit Abscheu und Entsetzen aus. Der Anschlag war trauriger Höhepunkt einer Welle rechtsextremistischer Gewalttaten gegen Ausländer Anfang der 90er Jahre unter anderem in Hoyerswerda, Rostock und Mölln. Eine aggressive Asyldebatte hatte ein fremdenfeindliches Klima geschürt. Drei Tage vor dem Solinger Anschlag schränkte der Bundestag das Asylrecht drastisch ein.
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Die vier Täter aus der Neonazi-Szene wurden 1995 vom Düsseldorfer Oberlandesgericht wegen fünffachen Mordes, 14-fachen versuchten Mordes und besonders schwerer Brandstiftung verurteilt. Der zur Tatzeit 23-jährige Markus G. erhielt 15 Jahre Haft, gegen die drei Mittäter im Alter von 16 bis 20 Jahren wurden zehn Jahre verhängt - das Höchstmaß nach dem Jugendstrafrecht.
Alle vier sind seit Jahren wieder auf freiem Fuß, teils vorzeitig wegen guter Führung. Ein damals 16-Jähriger musste seine zehnjährige Strafe voll absitzen und kam Jahre später erneut für vier Monate ins Gefängnis, weil er als Mitglied einer rechtsradikalen Kameradschaft öffentlich den Hitlergruß gezeigt hatte. Am Tatort erinnern heute eine Baulücke, fünf Kastanienbäume und ein Gedenkstein an die Opfer. Vor der ehemaligen Schule der bei dem Anschlag getöteten Hatice Genç steht zudem ein Mahnmal aus einem zerrissenen Hakenkreuz und tausenden Metallringen.
Die Opferfamilie Genç sann bis heute nicht auf Rache, sondern rief schon kurz nach dem Anschlag zu Versöhnung und friedlichem Miteinander auf. Auch ein Wegzug aus Solingen kam nie in Betracht: "Die Stadt ist nach wie vor meine Heimat", sagt Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor. Der Schmerz darüber werde sie bis an ihr Lebensende begleiten, aber sie sei dennoch glücklich, hier ihre Freunde und Nachbarn zu haben.
Rechtes Gedankengut immer noch verbreitet
Die heutige 70-Jährige nahm nach dem Anschlag die deutsche Staatsbürgerschaft an. Für ihre beispielhafte Versöhnungshaltung erhielt sie unter anderem das Bundesverdienstkreuz. Am 29. Mai nimmt sie mit ihrem Mann Durmus an der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Solingen teil. Auch im Düsseldorfer Landtag saßen die Eheleute vergangene Woche auf der Tribüne, als Parlamentspräsidentin Carina Gödecke (SPD) den Tag des Brandanschlags als einen der dunkelsten Tage in der Geschichte Nordrhein-Westfalens bezeichnete.
Als Reaktion auf die fremdenfeindliche Gewaltwelle der frühen 90er Jahre entstanden bundesweit Programme gegen Gewalt, Rassismus und Rechtsextremismus. In Solingen wurde ein "Bündnis für Toleranz und Zivilcourage" gegründet, inzwischen ist ein Platz nach dem türkischen Ort Mercimek benannt, aus dem die Familie Genç stammt. Doch nicht erst seit Aufdeckung der terroristischen NSU-Morde ist klar, dass rechtsextremes Denken und neonazistische Gewalt in Deutschland keineswegs der Vergangenheit angehören.
Die Gewaltbereitschaft unter extremen Rechten sei weiterhin sehr hoch, warnt der Düsseldorfer Neonazi-Experte Fabian Virchow und mahnt, ein Anschlag wie vor 20 Jahren in Solingen sei auch heute möglich. Allein in NRW wird laut Statistik jeden zweiten Tag eine rechtsextrem motivierte Gewalttat verübt. Langzeitstudien zeigen nach Angaben des Bielefelder Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer zudem, dass fremdenfeindliche Einstellungen nach einem langsamen Rückgang seit einigen Jahren wieder zunehmen.