Guantanamo schließen: spricht das politische Kalkül dagegen?

Foto: dpa/epa Shane T. McCoy
In orangefarbene Overalls gekleidete Häftlinge knien im Camp X-Ray auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba (am 18.01.2002 von der US-Armee herausgegebenes Archivfoto).
Guantanamo schließen: spricht das politische Kalkül dagegen?
Fast 100 Tage Hungerstreik: die Situation von Gefangenen im US-Lager Guantanamo spitzt sich täglich zu. Präsident Obama schiebt die Verantwortung auf den Washingtoner Kongress.

Als die Anwälte von Guantanamo-Gefangenen Mitte Februar von einem Hungerstreik von zwei Dutzend Häftlingen sprachen, wiegelte das US-Verteidigungsministerium ab. Es handele sich um "platte Propaganda". Drei Wochen später hieß es zynisch, "einer Handvoll" schmecke das Essen nicht. Das war zu einem Zeitpunkt, als bereits die Hälfte der 166 armen Seelen die Nahrungsmittelaufnahme verweigerte. Inzwischen räumt  das Pentagon ein, dass sich 100 Gefangene im Hungerstreik befinden.

Laut den Anwälten, die mit den Häftlingen telefonieren, sind es aber 130, also fast alle. 21 Gefangene werden zwangsernährt. Für diese extrem schmerzhafte Prozedur, die die UNO-Menschenrechtskommission als Folter bezeichnet, hat das US-Militär vor Kurzem 40 Hilfskräfte nach Guantanamo einfliegen lassen. Es geht offenbar darum, den Hungerstreik gewaltsam zu brechen, ohne dass ein Gefangener sich zu Tode hungert - was eine PR-Katastrophe bedeuten würde.

US-Kongress ließ schnelle Schließung nicht zu

Allerdings haben bereits zwei verzweifelte Häftlinge Selbstmord begangen. Doch erst der erschütternde Brief des 35-jährigen Samir Naji al-Hasan Moqbel, den Mitte April die "New York Times" veröffentlichte, ließ die interessierte Öffentlichkeit aufhorchen. "Guantanamo bringt mich um"  hatte der seit elf Jahren einsitzende jemenitische Häftling mithilfe eines Übersetzers seinem Anwalt diktiert. Moqbel beschrieb die grausamen Haftbedingungen - von seiner absurden Festnahme in Pakistan über seine Verschleppung ans andere Ende der Welt bis zu Folter, Hungerstreik und Zwangsernährung in Guantanamo. "Ich werde nichts mehr essen, bis sie mir meine Würde zurückgegeben haben", schrieb er.

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Er sei nie angeklagt worden, habe nie vor einem Richter gestanden  und - "Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt noch hier bin, ist Präsident Obama. Er weigert sich, Häftlinge zurück nach Jemen zu schicken." Über Moqbels Dokument wurde weltweit berichtet - was vermutlich der Grund dafür ist, dass sich Obama vor Kurzem überhaupt über Guantanamo ausließ. Auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche wiederholte der Präsident sein Wahlkampfversprechen von 2008, das Lager zu schließen und gab dafür freimütig erneut die Gründe an: "Guantanamo ist nicht notwendig für Amerikas Sicherheit. Es ist teuer. Es ist ineffizient. Es schadet uns international. Es schränkt die Kooperationsbereitschaft unserer Verbündeten bei Antiterror-Aktivitäten ein. Es ist ein Rekrutierungswerkzeug für Extremisten. Es muss geschlossen werden".

Schuld an der Lage sei allerdings der US-Kongress, der die Schliessung nicht zulasse. Er, Obama, habe seine Regierung mit der Revision der Vorgänge in Guantanamo beauftragt, um alles bürokratisch Notwendige zu unternehmen. Er werde sich dafür höchstpersönlich bei den Washingtoner Politikern einsetzen. Tatsächlich waren Republikaner und Demokraten gegen seine Ankündigung, Guantanamo innerhalb eines Jahres nach seiner ersten Amsteinführung dichtzumachen, Sturm gelaufen. Im Dezember 2010 stimmte eine Mehrheit des Repräsentantenhauses gegen die Verlegung von Guantanamo-Häftlingen in Gefängnisse auf US-Territorium.

Das politische Kalkül

Aber das Weiße Haus ging dem hochtrabenden Versprechen seines Chefs auch nicht energisch genug nach. Die Prioritäten lagen anders: es ging um politische Prioritäten. Mit der Schliessung von Guantanamo und der damit suggerierten "Nachgiebigkeit" gegenüber dem Terrorismus lassen sich sich keine Stimmen gewinnen. Obama erliess sogar eine Verfügung, nach der ausländische Terrorverdächtige unbegrenzt lange ohne Verfahren inhaftiert werden können. Guantanamo galt damit nach regierungsoffizieller Politik als "no brainer" - als „durch“. Bis jetzt.

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Tatsächlich sind Obama die Hände nicht komplett gebunden. Darauf weisen seit Wochen Anwälte und Menschenrechtsorganisationen hin. Er kann beispielsweise den Pentagonchef anweisen, den Transfer von gut der Hälfte der Häftlinge, die Jemeniten sind, in ihr Heimatland zu veranlassen. 86 Guantanamo-Insassen sind von den obersten Stellen der USA, vom Verteidigungsministerium über den nationalen Geheimdienstes bis zum Ministerium für Homeland Security dafür vor mehreren Jahren freigegeben worden. Der Anwalt der New Yorker Vereinigung "Center for Constitutional Rights" Pardiss Kebriaei sagt dazu deutlich: "Der Präsident braucht den Kongress nicht. Nötig sind seinerseits politischer Mut und Aktion." 2009 und 2010 habe es bereits ähnliche Transfers gegeben.

Doch der Transfer, die Freilassung und die endgültige Schließung von Guantanamo ist trotz des Hungerstreiks, des letzten Mittels der Häftlinge, unwahrscheinlich. Obama sagte vor Journalisten am 30. April zwar "ich will nicht, dass diese Leute sterben". Aber er fügte auch hinzu, das "Pentagon versucht, die Situation so gut wie möglich zu handhaben", dieselbe Institution, die den Selbstmord von Gefangenen einmal als "assymetrische Kriegsführung" bezeichnete. Das politische Kalkül scheint zu lauten: selbst wenn sich Häftlinge zu Tode hungern oder an Zwangsernährung sterben - der Aufschrei im Lande wäre vergleichsweise größer und politisch verheerender, wenn Guantanamo geschlossen werden würde.