"Berufen und begabt": Warum Arbeit mehr ist als Job

Foto: epd-bild/Rolf Zöllner
"Berufen und begabt": Warum Arbeit mehr ist als Job
Der Kirchentag beginnt diesmal am "Tag der Arbeit". Vertreter von EKD, Politik und Gewerkschaften treffen sich am 1. Mai in Hamburg, um über Gerechtigkeit in der Arbeitswelt zu diskutieren. Damit beschäftigt sich Oberkirchenrätin Cornelia Coenen-Marx jeden Tag, sie ist Referentin der EKD für sozial- und gesellschaftspolitische Fragen.
01.05.2013
evangelisch.de

Der Kirchentag beginnt am Tag der Arbeit. Welche Rolle spielt aus Sicht der Kirche die Erwerbsarbeit, um dem Leben einen Sinn zu geben?

Cornelia Coenen-Marx: "Der Mensch ist zum Arbeiten geboren, wie der Vogel zum Fliegen", hat Martin Luther gesagt. Wir erinnern an dieses Wort auf dem Flyer von "Arbeit plus", des EKD-Zertifikats für "gute Arbeit", mit dem wir jedes Jahr Unternehmen auszeichnen. Arbeit spielt also eine zentrale Rolle für unsere Lebensgestaltung. Mit Recht hat die Philosophin Hanna Arendt schon in den 60er Jahren festgestellt, dass wir in einer "Arbeitsgesellschaft" leben.

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Heute sprechen allerdings viele davon, dass wir den Übergang zu einer "Tätigkeitsgesellschaft" gestalten müssen. Denn Arbeit ist ja eben nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Sorgearbeit in Erziehung und Pflege, Hausarbeit oder ehrenamtliches Engagement. Die wachsende Bedeutung des Geldes in unserer Gesellschaft hat dazu geführt, dass die Tätigkeiten, die nicht mit Geld entlohnt werden, anscheinend nichts gelten. Wenn Luther aber von Arbeit sprach, dann meinte er die Haushaltsführung genauso wie die Schreinerei oder die Landwirtschaft. Es wird also Zeit, dass wir auch als Gesellschaft den Stellenwert von Sorgearbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement wieder entdecken.

Luther verstand die "Berufung" als Christ so, dass sie sich auch auf die Alltagspflichten bezieht – Arbeit ist damit "Gottesdienst". Für den Reformator Calvin war es ein Zeichen der Erwählung, wenn Arbeit zu Erfolg führte. Fleiß scheint also besonders evangelisch zu sein. Führt das nicht bei manchen zur  Selbstüberforderung?

Coenen-Marx: Die Reformatoren haben die Lebenswelt und den Alltag der Christen nicht länger vom geistlichen Leben unterschieden; sie haben ja auch den geistlichen Stand und die Klöster aufgelöst. Damit war klar: Es gibt keinen Lebensbereich, in dem Gott und Glaube keine Rolle spielen - auch das Windeln wechseln konnte für Luther eine spirituelle Erfahrung sein.

Dass das Alltagsleben geistliche Tiefe hat, begegnet uns heute wieder in der fernöstlichen Spiritualität: Da werden die Teezeremonie oder das Laubkehren zu religiösen Erfahrung. Ich denke deshalb, es ist zu kurz gegriffen, wenn wir das Getrieben sein, das Wirtschaft und Arbeitswelt heute prägt, nahtlos dem "Geist des Protestantismus" zuschreiben; vielleicht wird damit auch Max Weber überinterpretiert.

Immerhin war es Johannes Calvin wichtig, dass wir die Früchte unserer Arbeit auch genießen können, und er hat sehr viel Wert darauf gelegt, deutlich zu machen, dass Berufung und Erwählung Gottes Sache bleiben. Wir können und sollen also unser Leben gestalten, unsere Berufung ernst nehmen, etwas aus unseren Gaben machen - aber wir haben den Erfolg nicht in der Hand. Wer seine Grenzen anerkennt, kann gelassen werden und nimmt sich auch Zeit, die Rhythmen des Lebens wahrzunehmen, die Früchte zu genießen und die Erfolge zu feiern. Wer das nicht mehr kann, treibt schnell in Selbstüberforderung und Burnout.

"Es geht darum, das Miteinander zu fördern und auch Zeiten für Reflexion und geistliche Erfahrung anzubieten."

Auch in kirchlichen Werken, Einrichtungen und Dienststellen arbeiten Menschen bis zur Erschöpfung und bekommen Burnout. Was muss die Kirche als Arbeitgeberin tun, damit es den Angestellten möglichst gut geht?

Coenen-Marx: Auch das ist ein modernes Phänomen. Das Pfarrhaus meines Großvaters, an das ich mich gut erinnere, war noch durch ganz andere Maßstäbe geprägt: es war ein in die Gemeinde offener Lebensraum, zu dem neben der Familie ein großes Umfeld von Kindergärtnerinnen, Vikaren, Diakonissen usw. gehörte. Da ging es um Lebens- und Glaubenshilfe und auch um Persönlichkeitsentwicklung. Bei allen Schattenseiten dieses durchaus patriarchalen Konzepts war klar: Das Für-andere-Dasein prägte das Handeln. Das bedeutet: Es genügt nicht, auf Leistung, Qualität und "Output" von Mitarbeitenden zu schauen; es geht auch darum, ihre eigene Motivation und Professionalität ernst zu nehmen, ihnen Freiraum zu Gestaltung zu geben, das Miteinander zu fördern und auch Zeiten für Reflexion und geistliche Erfahrung anzubieten.

Im vergangenen Jahr hat das Bundesarbeitsgericht den "Dritten Weg" bestätigt. Die Mitarbeiter der Diakonie dürfen jetzt allerdings streiken und die Gewerkschaften müssen an der Aushandlung von Löhnen beteiligt werden. Was halten Sie von dem Urteil?

Coenen-Marx: Das Urteil ist aus meiner Sicht sehr weise und ausgewogen. Für die Kirche und ihre Diakonie kann es einen wichtigen Anstoß geben, um das eigene Arbeitsrecht so zu modernisieren, dass es auch in einer ökonomisierten Sozialbranche Zukunft hat: Dabei geht es vor allem darum, einen EKD-weiten Manteltarif einzuführen und die Vielfalt der miteinander konkurrierenden Arbeitsrechtlichen Kommissionen deutlich zu reduzieren. Wir müssen als Kirche anerkennen, dass die Sorgearbeit in der Sozialbranche, die Arbeit in Erziehung, Pflege, Hauswirtschaft, Medizin heute eben nicht mehr nur Liebestätigkeit, sondern Arbeit, und zwar Erwerbsarbeit ist, die in vielem durch ähnliche Kriterien geprägt ist, wie andere Dienstleistungsbranchen auch.

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Gerade deshalb ist es ein wichtiger Testfall, ob es uns gelingt, in diesem Feld auch weiterhin auf Kooperation, die eigene Motivation und die Stärke der Teams zu setzen. Wir müssen uns deshalb  gemeinsam mit den Gewerkschaften für angemessene Tarife in der Sozialbranche stark machen, wie das bis in die 80er Jahre de facto der Fall war, als die Kirchen den mit den Gewerkschaften ausgehandelten öffentlichen Tarif weitgehend übernommen haben. Heute führt der Wettbewerb im zunehmend privatisierten Sozialmarkt leider auch zum Wettbewerb zwischen den Trägern, zum Teil sogar innerhalb der Diakonie. Die Kritik daran ist berechtigt. Dass nun allerdings ver.di vor dem Bundesverfassungsgericht klagen will, verschärft nur falsche Fronten und mindert die Chancen auf gemeinsames politisches Handeln.

Auf dem Kirchentag treffen Sie am 1. Mai mit Gewerkschaftlern zusammen. Der Untertitel lautet: "Kirche und Gewerkschaften - Da geht was zusammen". Das klingt sehr friedlich. Doch bei welchen Themen gibt es noch Diskussionsbedarf?

"Es kann aus unserer Sicht nicht um jeden Preis um den Erhalt von Arbeitsplätzen z.B. in der Energie- oder Rüstungsbranche gehen."

Coenen-Marx: Angesichts des Streits um den Dritten Weg ist es sehr wichtig, die Gemeinsamkeiten in den Blick nehmen. Die Debatte, die wir im letzten Jahr miteinander über das Thema "Transformation und Nachhaltigkeit" geführt haben, hat aber auch gezeigt, dass die Grenzen des Wirtschaftswachstums innerhalb der Kirche deutlicher betont werden und dass es aus unserer Sicht nicht um jeden Preis um den Erhalt von Arbeitsplätzen z.B. in der Energie- oder Rüstungsbranche gehen kann. Umweltgerechtigkeit und internationale Gerechtigkeit spielen traditionell in den kirchlichen Basisgruppen eine sehr große Rolle.

Und beim Thema Inklusion sind immer auch diejenigen im Blick, die in der Erwerbswelt, wie sie sich derzeit darstellt, kaum eine Chance haben: Arbeitslose, Leiharbeiter, Menschen mit Behinderung. Hier geht es für Kirche darum, dass die Unternehmen und Belegschaften nicht zum closed shop werden - und in den Diskussionen zeigt sich für mich, dass die Volkskirchen nicht einfach Verbände sind, die sich um die Interessen ihrer Mitglieder sorgen müssen. Das ist ein großer Vorteil und gibt auch Freiheit zu manchen Stellungnahmen.

###mehr-links### Die Überschrift der gemeinsamen Aktion lautet: "Soviel Gerechtigkeit du brauchst" – An welchen Stellen mangelt es in der Arbeitswelt an Gerechtigkeit?

Coenen-Marx: Was wohl heute jedem einfällt, ist die Frage, um wieviel höher das Gehalt eines Vorstandsvorsitzenden sein kann als das eines einfachen Arbeitnehmers. Und auch wenn es darauf keine einfache Antwort gibt, so ist doch deutlich: Die Relation zwischen beiden dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Das gleiche gilt für die Relation zwischen der indischen Näherin im Sweatshop und der Mitarbeiterin in Deutschland, die die Kleidung, die dort produziert wurde, vertreibt oder verkauft.

Die Frage nach Gerechtigkeit stellt sich auch im Blick auf das Verhältnis der Generationen – zur Zeit sind es die Jungen, die mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen für die Flexibilität der Unternehmen sorgen und deshalb oft Probleme haben, eine Familie zu gründen. Es geht immer um die Relation: zwischen oben und unten, zwischen älteren und jüngeren, aber auch zwischen "innen und außen", denen, die gesicherte Arbeitsverhältnisse haben und denen, die in Leiharbeit oder Zeitarbeit sind - hier haben viele das Gefühl, dass es in unserer Gesellschaft nicht gerecht zugeht.

Chefposten sind unter Frauen und Männern in Deutschland ungleich verteilt, auch in der Kirche. Das könnte man als ungerecht bezeichnen. Was halten Sie von einer Frauenquote?

Coenen-Marx: Zunächst einmal finde ich es noch bedenklicher, dass das "Gendergap" in der Bezahlung noch immer bei mehr als 20 Prozent liegt. Das liegt nur zum Teil daran, dass Frauen nicht so weit aufsteigen, es hat auch damit zu tun, dass Frauenberufe generell schlechter bezahlt werden und dass Frauen häufig in Teilzeit arbeiten, auch weil die unterstützende Infrastruktur für Familien fehlt. Ein Mentalitätswandel im Blick auf die Kultur in der Erwerbsarbeit, mehr Wertschätzung der Sorgearbeit und eine stärkere Investition in Familienzentren, Pflegedienste, Ganztagsschulen könnten schon viel verändern.

Eine Quote allein kann das nicht leisten. Gleichwohl bin ich eine Anhängerin der Quote, weil sie den Prozess des Umdenkens stützen kann. Das Argument, dass damit die individuelle Leistung in den Hintergrund treten könnte, zählt für mich nicht oder jedenfalls nicht mehr - tatsächlich geht es ja um einen Kultur- und Mentalitätswandeln, bei dem der Blick geweitet werden muss. Um noch einmal den Bogen zum Anfang zu schlagen: wozu jemand berufen und begabt ist, das hängt heute nicht mehr wie in der Zeit der Reformatoren vom Geschlecht ab. Aber es scheint, als hätten wir damit noch immer nicht ernst gemacht.