Als Franz Kafka den Roman "Der Prozess" geschrieben hat, konnte er nicht ahnen, dass die Erlebnisse seines Protagonisten, Herrn K., hundert Jahre später im Vergleich zur Realität fast harmlos wirken. Selbst wenn Ulli Philipp beim Schreiben ihres Drehbuchs zu dem Film "Im Netz" nicht an Kafka gedacht hat: Die Parallelen sind offenkundig. Hier wie dort wird ein bis dahin unbescholtener Mensch aus dem Bett heraus verhaftet. Immerhin ist Juliane Schubert zwei Tage später wieder auf freiem Fuß, aber ihr Leben wird nie mehr so sein, wie es mal war: weil sich irgendjemand mit Hilfe des Internets ihrer Identität bemächtigt hat. Deshalb behandelt die Polizei die Unternehmensberaterin wie eine Terroristin: Auf ihren Namen ist eine konspirative Wohnung gemietet worden, das Geld wurde von ihrem Konto abgebucht. Zu allem Überfluss hatte sie mal einen muslimischen Freund, der kurz nach den Attentaten vom 11. September 2001 untergetaucht ist; und da sie geschäftlich viel im Nahen Osten zu tun, kommt eins zum Anderen.
Berechtigter Verfolgungswahn
Die Geschichte hätte auch das Zeug zu einem Thriller, aber Regisseurin Isabel Kleefeld macht eine Psychostudie draus: Wie verhält sich eine Person, die den Boden unter den Füßen verliert und niemandem mehr trauen kann, weil sie den Identitätsdieb in ihrer näheren Umgebung vermuten muss? Caroline Peters, nach Filmen wie "Arnies Welt" (Grimme-Preis) oder "Schlaflos" hier zum vierten Mal Kleefelds Hauptdarstellerin, spielt diese Frau allerdings nicht als Opfer. Natürlich ist Juliane Schubert von den Ereignissen anfangs völlig überrumpelt, aber dann ergreift sie die Initiative: Sie ist überzeugt, dass ihr neuer Nachbar Schultz (Wolfram Koch) hinter dem Komplott steckt, aber die Polizei lässt ihn umgehend wieder laufen. Als sie entdeckt, dass ein vertrauter Kollege sie hintergangen und selbst ihr Geliebter sie angelogen hat, findet sie ohne Geld und ohne Arbeit ausgerechnet bei Schultz Trost; nicht ahnend, dass ihre erste Eingebung ein Volltreffer war.
Selbstredend ziehen Philipp und Kleefeld alle Register, um zu belegen, dass der Verfolgungswahn der Hauptfigur völlig berechtigt ist; und das nicht nur wegen der allgegenwärtigen Kameraüberwachung. Personifiziert wird die Paranoia durch einen leitenden Beamten vom Verfassungsschutz, den Alexander Held, Spezialist für Schurken in Nadelstreifen, mit ausgesucht subtiler Bosheit verkörpert; um so hübscher sind kleine Momente wie jener, als sich der Staatschützer von einem Lied anstecken lässt, zu dem Juliane durch ihre rundum mit Kameras bestückten Wohnung tanzt.
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Die ARD kombiniert "Im Netz" mit einer anschließend ausgestrahlten Dokumentation ("Die Spur der Datendiebe") zu einem Themenabend, der zu mehr Vorsicht beim Umgang mit persönlichen Daten anregen soll. Philipps Drehbuch zeigt nachdrücklich, wie groß die Abhängigkeit vom Internet und wie brüchig diese Basis ist, wenn jemand wirklich böse Absichten hegt. Die Bildgestaltung verdeutlicht diesen Ausnahmezustand, weil Kameramann Alexander Fischerkoesen immer wieder ungewöhnliche Blickwinkel einnimmt: Die Identifikation mit Juliane wird durch ihre subjektive Perspektive verstärkt, der Eindruck der permanenten Beobachtung durch Bilder aus den Überwachungskameras. Auf diese Weise lässt sich quasi hautnah nachvollziehen, wie es sich anfühlt, wenn man die Kontrolle über sein Leben und damit komplett den Boden unter den Füßen verliert.