Dieser Film ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man mit Hilfe der Kameraführung eine subtile Spannung erzeugen kann, auch wenn die Bilder im Grunde harmlos sind. Frank Küppers Arbeitsgerät ist ständig in Bewegung, ohne dabei je hektisch zu wirken. Die Bewegungen sind nie ruckartig, sondern stets fließend; auch der Schnitt ist betont sanft. Auf diese Weise sorgt Regisseur Thomas Berger für eine gewissermaßen subkutane Unruhe. Diese Erzählweise hält er auch bei, wenn das Leben seiner Heldin längst komplett aus der Bahn geworfen ist. Die Einheitlichkeit der Bildsprache hat im Zusammenspiel mit der Musik (Florian Tessloff) einen interessanten Doppeleffekt: Anfangs hat Judith Kepler noch keine Ahnung, dass sie in Wirklichkeit eine völlig Andere ist, aber die Bildgestaltung baut bereits Spannung auf. Später, wenn sich die Ereignisse überschlagen, bleibt Berger seinem Stil treu; die Dynamik der Geschichte wird nicht künstlich durch die Kamera erzeugt, sondern ergibt sich aus der Handlung.
Die Lösung liegt in der Vergangenheit
Die allerdings ist zunächst verworren und undurchschaubar, was aber gleichfalls Methode hat, schließlich geht es der Hauptfigur nicht anders. Als Tatortreinigerin Judith (Anna Loos) am Schauplatz eines Verbrechens für Ordnung sorgen soll, erwarten sie zwei unangenehme Überraschungen: Erst wird sie von einem Fremden (Rainer Bock) niedergeschlagen, dann entdeckt sie ihre Akte aus dem ostdeutschen Heim, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat; aber das Foto zeigt ein anderes Mädchen. Kaum wähnt sie sich in Sicherheit, lauert ihr ein weiterer Mann auf. Beide suchen irgendwelche Filme. Judith hat zwar nicht die geringste Ahnung, worum es geht, erkennt aber, dass die Lösung in ihrer Vergangenheit liegen muss. In einem Seniorenheim findet sie die Frau, die sich einst im Heim wie eine Mutter um sie gekümmert hat. Die alte Dame nennt sie jedoch Christine. Als sie erneut bedroht wird, entpuppt sich ausgerechnet der Fremde vom Tatort als Retter in höchster Not. Aber kann sie ihm trauen? Kann sie überhaupt irgendwem noch trauen?
Berger ("Wir sind das Volk"), Schöpfer der ZDF-Reihenfigur "Kommissarin Lucas", hat das Drehbuch nach dem Roman von Elisabeth Herrmann verfasst. Der Film erzählt eine Geschichte, deren ganze Dimension sich erst nach und nach entfaltet. Zunächst resultiert der Reiz vor allem aus der zunehmenden Verunsicherung der Hauptfigur. Anna Loos verkörpert diesen schleichenden Prozess ausgesprochen glaubwürdig. Schon Judiths Beruf signalisiert, dass sie eine Frau ist, die sich nicht so leicht aus der Bahn werfen lässt. Entsprechend selbstbewusst tritt sie die Reise in ihre persönliche Vergangenheit an. Um so erschütternder ist die Erkenntnis, dass ihr Leben eine Lüge war und eine andere Frau an ihrer Stelle gestorben ist. Das wiederum lässt nur einen Schluss zu: Sie wird die nächste sein. Und dies ist bloß die persönliche Ebene. Der Fremde repräsentiert den Überbau, er sorgt für die historische Einbettung: Quirin Kaiserley war einst Agent des Bundesnachrichtendienstes. Ihn motivieren zwar andere Fragen als Judith, doch beide suchen die gleichen Antwort. Sie steht auf einer Liste mit den Namen westdeutscher DDR-Spione, und alle Beteiligten sind überzeugt, dass Judith diese Liste besitzt.
###autor###
Die Besetzung des früheren BND-Mitarbeiters mit Rainer Bock ist vielleicht das Ungewöhnlichste an diesem Film, und das nicht nur, weil er nicht im Entferntesten dem üblichen Filmbild des Geheimagenten entspricht. Der erfolgreiche Bühnenschauspieler verkörpert meist prägnante Nebenfiguren, etwa als Mörder im "Tatort" aus Frankfurt ("Im Namen des Vaters") oder als Vater einer jugendlichen Mörderin ("Ein Jahr nach morgen"), was naturgemäß die Zwiespältigkeit seiner Rolle in diesem Thrillerdrama unterstreicht. Auch die weiteren Rollen sind mit Hinnerk Schönemann als Judiths Chef sowie Arved Birnbaum und Hermann Beyer als Stasi-Agenten treffend und namhaft besetzt. Bloß Bernhard Schütz spielt in diesem fesselnden Film über ein Ereignis, das unter den Teppich der Geschichte gekehrt worden ist, exakt jene Rolle, die man der von ihm verkörperten Figur von Anfang an zutraut.