"Schläge im Namen des Herrn" heißt das Sachbuch von Peter Wensierski, das die Grundlagen der Recherchen von Drehbuchautorin Andrea Stoll bildete. Der "Spiegel"-Autor erzählt in seinem Bestseller die "verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik". 3.000 überwiegend kirchliche Heime mit insgesamt 200.000 Plätzen gab es in den Sechzigerjahren in Westdeutschland. Während sich die Gesellschaft durch die Einführung der Anti-Baby-Pille und die sexuelle Revolution von Grund auf veränderte, bewahrten die Heimleiter ihre Zöglinge mit strenger Hand vor "sittlicher Verwahrlosung". Die 16jährige Luisa scheint besonders gefährdet, schließlich kommt sie aus Berlin, und es ist den Diakonissinnen keineswegs entgangen, dass sie dem gleichaltrigen Paul ein schüchternes Lächeln zugeworfen hat. Zur Nachtruhe werden ihre Hände deshalb links und rechts ans Bett gefesselt: "weil ihr die Unzucht aus den Augen rausschaut." Die Freiheitsberaubung ist allerdings völlig harmlos im Vergleich zu dem Schicksal, das Luisa blüht, als sie beim Wischen des Flurs von einer Schwester (Birge Schade) schikaniert und geschlagen wird; und dann zurückschlägt. Was ihr nun widerfährt, hat man schon in den Anfangsbildern gesehen.
Das Grauen spielt sich vor allem im Kopf ab
Es sind unerhörte Missstände, die der Film anhand seiner erfundenen Hauptfigur schildert; aber die Ereignisse sind authentisch. Auch dank der jungen Alicia von Rittberg, die Luisa mit einer Mischung aus backfischhaftem Trotz und aufrichtiger Empörung verkörpert, geht einem die Geschichte nahe. Eine fortschrittliche Pädagogin (Jasmin Schwiers) ist der einzige Hoffnungsschimmer in diesem tristen Gemäuer, das eher an ein Arbeitslager als an ein Heim für Jugendliche erinnert. Trotzdem hat Dror Zahavi auf plakative Szenen verzichtet. Gewalt spielt in seinen Filmen (etwa in "Zivilcourage" oder "Alles für meinen Vater") zwar immer wieder eine maßgebliche Rolle, aber er kommt dabei stets ohne spekulative Bilder aus. Das gilt auch für Luisas Bestrafung: Das Grauen spielt sich vor allem im Kopf ab. Gemeinsam mit Kameramann Gero Steffen ist es dem schon lange in Deutschland lebenden Israeli ihm gelungen, die bedrückende Atmosphäre des hessischen Heims Falkenstein vor allem mit Mitteln der Bildgestaltung einzufangen. Die Innenaufnahmen sind konsequent in Grau gehalten, viele Szenen spielen im Halbdunkel. Wenn Luisa und Paul (Leonard Carow) gemeinsam die Flucht gelingt, lacht die Sonne. Das klingt nicht sonderlich originell, ist in seiner Wirkung aber ausgesprochen effizient.
Gleiches gilt für die Verknüpfung der Sechziger mit der Gegenwart. Eine Begegnung des Paares in der Bibliothek geht nahtlos über ins Jahr 2008, als sich Luisa und Paul in seinem Antiquariat zum ersten Mal nach 44 Jahren wieder begegnen. Der Kontrast zwischen der fast körperlich spürbaren eisigen Kälte des Heims und den heimeligen, warmen Farben der Buchhandlung könnte kaum größer sein. Es ist ein ausgesprochener Glücksfall, dass Senta Berger und Matthias Habich bereit waren, die vergleichsweise kleinen Rollen des Paars in der Rahmenhandlung zu übernehmen: Weil es beiden gelingt, die Entwicklung von Luisa und Paul während der vergangenen vier Jahrzehnte glaubhaft und ohne viele Worte allein durch ihr Auftreten zu verdeutlichen.
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Der Titel "Und alle haben geschwiegen" bezieht sich nicht zuletzt auf die Ohnmacht der einstigen Heimkinder, die völlig auf sich allein gestellt mit ihrem Schicksal klarkommen mussten. Während Luisa bis nach Amerika fliehen musste und nun zurückgekehrt ist, um vor einem Ausschuss des Bundestags auszusagen, hat Paul, der damals für jedes Stottern geschlagen wurde, den Geistern der Vergangenheit bis heute nicht entkommen können.