"Wenn ich weiß, was richtig ist, warum tue ich das andere? Bin ich Opfer oder Täter im Verhältnis zu vermeidlich Unveränderbaren wie Politik oder Naturkatastrophen?" Mit diesen zwei Grundsatzfragen führt Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters, in den Abend ein. Hinter ihm auf der Bühne sitzen bereits die Schauspieler des Ensembles auf einer langen Bank. In den folgenden drei Stunden werden sie aus religiösen und philosophischen Texten lesen, aus dem Koran und der Bibel, aus Werken jüdischer Philosophen wie Moses Maimonides und Abraham Joshua Heschel, aus einem Traktat Martin Luthers und den Bekenntnissen des Augustinus. Unterbrochen wird die Rezitation von Musik und Gesprächsrunden mit Religionswissenschaftlern und Philosophen.
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Die Lange Nacht der Weltreligionen ist in Hamburg mittlerweile zu einem Highlight des Theaterfestivals "Lessingtage – Um alles in der Welt" geworden, die Intendant Lux 2010 zum ersten Mal am Thalia initiierte. Gemeinsam mit der Akademie der Weltreligionen (AWR) gestaltete das Theater auch diesmal den Ablauf der Nacht. "Wir haben uns auf die großen Weltreligionen beschränkt und versucht, inhaltlich einen Bogen bis ins zwanzigste Jahrhundert zu schlagen. Natürlich spielte bei der Auswahl auch eine Rolle, wie schön die Texte sind", erklärt Thalia-Dramaturgin Beate Heine.
Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters, führt durch den Abend. Foto: Krafft, Angerer
Mit dem "Yoga des Handelns" aus dem Bhagavad Gita, dem großen Lehrgedicht des Hinduismus, beginnt der Abend. "Handeln ist wahrlich besser als Nicht-Handeln, denn selbst die bloße Erhaltung des Körpers wäre ohne Handeln nicht möglich" heißt es in einem der Verse des Bhagavad Gita, ein schwieriger Stoff, der den Rezitatoren einiges abverlangt.
Von den 1000 Sitzplätzen des Hauses sind mehr als Dreiviertel besetzt. Die Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen dominiert im Publikum, doch es sind auch zahlreiche junge Gäste darunter. Schlag auf Schlag wechseln Akteure und Themen auf der Bühne und immer geht es um die ganz großen Fragen. Selbst die Musik bietet nur wenig Erleichterung: Die libanesische Sängerin Rima Khcheich singt schön, aber auch schwermütig.
Dem hinduistischen Lehrgedicht folgen Auszüge aus dem buddhistischen Pali-Kanon und der Genesis. Wie kann sich der Mensch mit der Erkenntnis von Gut und Böse verhalten? In der anschließenden Gesprächsrunde sagt Carola Roloff, Gastprofessorin an der Akademie und buddhistische Nonne: "Religion fordert von uns, dass wir aktiv werden. Wir haben die Freiheit im Leben, Gutes zu tun."
"Religion fordert von uns, dass wir aktiv werden"
Im zweiten Teil des Abends lesen die Künstler aus dem Buch Ijob der hebräischen Bibel, anschließend die Sure 38 aus dem Koran zur Hiobsthematik. Die Dramatik der Texte, gelesen auf einer Bühne, entfalten ihre ganz eigene Wirkung. In der folgenden Gesprächsrunde fragt Lux: "Die Hiobsgeschichte führt zu der ewigen Kinderfrage: Gott, wie kannst Du das Ungerechte zulassen? Wie sind Kriege oder Katastrophen zu rechtfertigen?" Katajun Amirpur, Hamburgs erste Islamprofessorin, gibt eine differenzierte Antwort. "Gott muss im Islam beides sein, barmherzig und allmächtig. Eine mögliche Antwort ist zu sagen, Gottes Wege sind unergründlich", erklärt sie. Und sie zeigt auf, dass im Islam keineswegs ein Fatalismus herrscht. "Ein Argument für Willensfreiheit im Islam ist, dass Gott ja niemanden zwingt, an ihn zu glauben. Aus dieser Logik heraus muss der Mensch einen freien Willen haben", sagt Amirpur.
Was bedeutet es, frei zu handeln? Im dritten Abschnitt lesen die Schauspieler aus Werken von Religionsphilosophen wie Mohammed Ibn Rushd und Maimonides. Als der Rabbiner Abraham Joshua Henschel mit dem Satz zitiert wird: "Freiheit ist auch die Fähigkeit, zu Wollen und zu Lieben", klatscht das Publikum begeistert. Birgit Recki, Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg, und der Theologe Professor Ulrich Dehn reflektieren den Begriff Freiheit: "Der Mensch lebt in einem Spannungsfeld von Schicksal und Freiheit", sagt der Theologe. Dass Theologie und Philosophie sich nicht ausschlössen, betont die Philosophin: "Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten der Theologie und Philosophie im Denken über Probleme. Das Freiheitsthema hat in den vergangenen Jahren durch die Fortschritte in der Gehirnforschung eine Brisanz gewonnen. Doch es gibt keinen Grund, sich den Gedanken abzugewöhnen, dass wir frei sind", sagt Recki.
"Wie sind Katastrophen zu rechtfertigen?"
Zweieinhalb Stunden sind vorbei. Nun wird es lebendiger auf der Bühne und im Publikum. Bei den Auszügen aus Augustinus "Der freie Wille" mit den hintersinnigen Dialogen gibt es viele Lacher im Publikum. Auch die scharfzüngigen Dispute zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther zum freien Willen und der Freiheit des Christenmenschen kommen an.
Am Ende verlässt ein nachdenkliches Publikum den Saal. Zu Essen und Musik hat das Theater jetzt geladen, dabei wird rege diskutiert. "So viele religiöse Texte auf einer Bühne vorgetragen zu bekommen, ist besonders. Und es ist interessant zu hören, dass die verschiedenen Religionen im Grunde auf das Gleiche hinauslaufen, nämlich darauf, gut zu handeln", sagt Theaterbesucherin Ines Schöttke. Auch Abiturientin Elif Nur Toka nimmt neue Eindrücke mit: "Die Geschichten zeigen doch, wie bunt und vielfältig die Religionen sind. Und sie machen deutlich, dass man immer verschiedene Antworten auf die Fragen bekommt", sagt sie. Bei der nächsten Langen Nacht der Weltreligionen will sie wieder dabei sein. Andere Zuschauer sind deutlich erschöpft. Mehr als drei Stunden ohne Pause über grundsätzliche Lebensfragen zu reflektieren, hat manchem Gast Kraft gekostet, so wie Sabine Bauer. "Tolle Themen, aber wirklich schwere Texte", sagt sie. Ihr ist klargeworden: "Das ist ganz schön kompliziert mit der Freiheit." Doch Intendant Lux lässt sich in seinem Konzept nicht verunsichern. Im Gegenteil, die große Beliebtheit dieser einmaligen Theaternacht zeige ja, dass das Publikum nach intellektuellen Herausforderungen suche. Und so sammelt er bereits Ideen für das kommende Jahr. "Ethik fände ich spannend, mit den zehn Geboten könnte man schon einen ganzen Abend machen", meint der Theatermann.