Was macht ein Mensch, der keinen Ort hat, um um seine Nächsten zu trauern? "Zünden Sie doch bitte eine Kerze an für meine Eltern", sagt Gretel Baum-Merom. Und so werden im Reuterweg in Frankfurt zwei Kerzen an den Stolpersteinen für Julie und Norbert Baum entzündet. Passanten drehen sich im Vorbeigehen um, unbeirrt fließt der Berufsverkehr Richtung Bankenviertel. Später – in Israel - nimmt Gretel Baum-Merom die Fotos von den Stolpersteinen für ihre Eltern und stellt sie auf eine Kommode.
Sie war schon weit über 90 Jahre alt, als die Stolpersteine verlegt wurden, sie hat Tränen in den Augen: "Es erfasst mich mit Grauen, wenn ich mir vorstelle, dass meine Eltern wie Schlachtvieh mit einem Namensschild um den Hals durch das Westend zur Frankfurter Großmarkthalle geführt wurden." Von dort wurden sie, gepfercht in Viehwaggons, ins Ghetto nach Lodz in Polen gebracht. Ihre Mutter wird sich 1942 erhängen aus Angst vor der Deportation ins Konzentrationslager, ihr Vater stirbt kurz darauf an Hunger oder einer Seuche – vollkommen geklärt ist sein Schicksal bis heute nicht.
Was macht ein Mensch, der hundert Jahre Leben gelebt hat, mit so viel Schicksalsschlägen darin, dass es fast zu viel für einen Menschen ist? Er spricht darüber oder er schreibt es auf. Gretel Baum-Merom hat ihre Familiengeschichte aufgeschrieben – drei Bücher sind es geworden, das letzte mit Briefen ihrer Eltern aus Nazi-Deutschland erscheint, als sie 98 Jahre alt ist. "Das Buch war ein Liebesdienst. Für meine Eltern und meinen Bruder." Ähnlich wie Gretel Baum-Merom, die 1934 nach Palästina emigrierte, gelang es auch ihrem Bruder Rudolf auszureisen. Er lebte seit 1935 bis zu seinem Tod in den USA.
Die Briefe jahrelang nicht gelesen
Die Briefe, die die Eltern aus Frankfurt an den Bruder in Amerika schrieben, überließ er dem Leo Baeck Institut in New York, Kopien gingen an die Schwester Gretel in Haifa. "Ich hatte die Briefe jahrelang in meinem Bücherschrank, nie habe ich sie angefasst. Erst als mein Bruder starb, habe ich sie mir vorgenommen", sagt sie. In ihrem kleinen Zimmer im Elternheim – so heißen Altersheime in Israel – holte Gretel Baum-Merom ihre alte Schreibmaschine hervor, mit weit über 95 Jahren kam der Computer dazu. "Und dann musste ich wieder ans Briefbündel ran. Und wieder hatte ich Herzweh und wieder hatte ich Aufregung."
Während die junge Gretel die ersten Jahre in Palästina im Kibbuz arbeitet, mit schweren Hacken sandigen Boden für Orangenbäume urbar macht und in einem einfachen Zelt lebt, hoffen die Eltern in Frankfurt auf ein Ende der Nazi-Zeit. Die Briefe an die Kinder beschwichtigen, Gretel und Rudolf wird Mut zu gesprochen für ihr neues Leben. "Bleibe gesund und mache Deinen Eltern nur Freude", schreibt die Großmutter Julie dem Sohn von Gretel. Norbert Baum, der bis zur Enteignung durch die Nazis als Kaufmann sein Geschäft in der Frankfurter Kaiserstraße betreibt, erzählt in den Briefen von Freunden und Familie. Mit den Jahren aber wird der Ton dringlicher.
1937 schreibt der Vater: "Die Abwanderung hält an, täglich hört man von neuen Abreisen." Immer mehr jüdische Bekannte emigrieren, Julie und Norbert Baum verlieren die Wohnung im Reuterweg, ziehen in ein ausschließlich von Juden bewohntes Haus in der Wolfgangstraße. Noch 1936 kann Julie Baum ihre Tochter Gretel in Palästina besuchen. Aber Gretel kann sie nicht zum Bleiben überreden: Die Mutter will zurück nach Frankfurt zu ihrem Mann.
"Das Bäumche ist übergeschnappt!"
"Dass ich sie unwissentlich in den sicheren Tod gehen ließ, das ist eine Tatsache, die mir heute mehr denn je zu schaffen macht." Manchmal bricht ihre Stimme, wenn Gretel Baum-Merom von ihren Eltern erzählt. Eltern, die ihre Kinder zu liberalen Juden erzogen, denen Bildung wichtig war: Klavierunterricht, Gesang, Tanz – das zählte ebenso zu ihrer Jugend wie der Besuch der Viktoriaschule, der heutigen Bettinaschule im Frankfurter Westend. Dort machte Gretel 1932 ihr Abitur. Noch heute schwärmt sie von vielen ihrer Lehrer und dem Klassenverband: "Unsere Erziehung an der Viktoriaschule war so erfolgreich, dass lediglich zwei oder drei Mitschülerinnen später Nazis wurden."
Gretel Baum lernte Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung kennen, las Marx und Buber, begann für den Jüdischen Nationalfond Geld für ein Leben in Palästina zu sammeln. Die Eltern, sagt sie, "konnten sich mit meiner neuen Verrücktheit nur schwer abfinden." Ihre Mutter fand, Zionismus sei nur etwas für arme Ostjuden: "Meine Eltern waren so sehr gegen den Zionismus, dass mein Vater am Sederabend sich weigerte, zu sagen: 'Nächstes Jahr in Jerusalem'."
Gretel Baum aber ließ sich nicht abbringen, auch wenn eine Schulfreundin meinte: "Das Bäumche ist übergeschnappt! Sie will nach Palästina auswandern!" Gretels Pläne wurden konkreter, als die Nationalsozialisten Ende 1933 die Macht ergriffen. "Als ich spät nach Hause kam, sah ich am Horizont die Flammen eines Fackelzugs zu Ehren des Führers. Ich zögerte keinen Moment mehr." Die 20-jährige kündigte ihre Stelle bei der Deutschen Effecten- und Wechselbank, "Eltern oder nicht", und bereitete ihre Auswanderung nach Palästina vor.
Den jungen Deutschen ihre Geschichte erzählen
Im April 1934 war Zeit, Abschied zu nehmen. Ihren Vater würde Gretel Baum-Merom nie wieder sehen. Mit dem Zug ging es nach München, von dort im versiegelten Abteil nach Triest, weiter mit der "Guerusalemme" übers Mittelmeer nach Palästina. Am 30. April landete die Gruppe junger Zionisten in Jaffa: "Es war alles sehr exotisch und romantisch", erinnert sich Gretel Baum-Merom, "wir wurden von arabischen Schiffsleuten in schaukelnden Booten an Land gebracht." Die anfängliche Euphorie wich harter Arbeit. Gretel Baum-Merom zählte zu den Gründungsmitgliedern des Kibbuz "Ein Gev" am See Genezareth, das berühmteste Mitglied dort war der spätere Bürgermeister von Jerusalem Teddy Kollek. Später verdingte sie sich als Hausmädchen, nach der Scheidung von ihrem ersten Mann als Sekretärin bei der britischen Mandatsmacht.
1961 betrat Gretel Baum-Merom mit ihrem zweiten Mann erstmals wieder deutschen Boden. Gespräche mit Menschen ihrer Generation fielen ihr damals schwer – zu ungewiss war die Antwort auf die Frage, was sie während der Nazi-Zeit getan haben. Bis heute hat sie Kontakt zu jungen Deutschen, Freiwillige der Aktion Sühnezeichen waren immer wieder bei Gretel im Elternheim. Ihnen kann sie von ihrem Leben erzählen: "Ich muss ja irgendwo reden. An meinem Tisch im Elternheim interessiert sich kein Mensch für die Vergangenheit. Dann heißt es: 'Na ja, so war's. Aber es ist nicht: Na ja, so war's. So entsetzlich – so war's.'"
"Als die Stolpersteine verlegt wurden, konnte ich einen Punkt machen"
Gretel Baum-Merom, die 100-jährige Emigrantin, nimmt noch immer teil am Leben: via Skype mit ihrer ehemaligen Schule im Frankfurter Westend, per E-Mail und Telefon mit Familie und Freunden. An ihrem Bett liegt immer Goethes "Faust", ihre Enkelin wird Deutsch lernen und bald ihre Bücher lesen können. Was geht in ihr vor, wenn sie heute die Briefe ihrer Eltern liest? "Dass ich nicht genug getan habe, um meine Eltern hierher zu bringen. Es schmerzt jeden Tag." Warum aber hat sie die Bücher geschrieben? "Damit es alle lesen. Auch die Generation, die wirklich nicht schuldig ist. Damit sie sehen, wozu ein Mensch fähig ist."
Heute wird Gretel Baum-Merom 100 Jahre alt. Viele Freunde aus Deutschland wollen zu ihrer Geburtstagsfeier nach Haifa kommen. Auch aus Frankfurt kommt Besuch, aus der Stadt, in der ihre Familie mehr als 400 Jahre lebte, der Stadt, aus der ihre Eltern in den Tod geschickt wurden. Aber mit der Stadt hat sich Gretel Baum-Meron abgefunden: "Als die Stolpersteine verlegt wurden, konnte ich einen Punkt machen. Ich habe das Gefühl, dass ich ein wenig die Schuld gegenüber meinen Eltern abgetragen habe."