Inklusion umgekehrt: ohne Behinderung zur Förderschule

Foto: iStockphoto/Dean Mitchell
An der Vincenzschule können Kinder gemeinsam lernen und die Stärken und Schwächen voneinander schätzen lernen - unabhängig davon, ob sie spezielle Förderung benötigen.
Inklusion umgekehrt: ohne Behinderung zur Förderschule
Selbstverständlich miteinander leben und voneinander lernen ist das Ziel der Inklusion. Ein Meilenstein für die Integration ist die Vincenzschule Aulhausen. Die ehemalige Förderschule unterrichtet jetzt auch Kinder ohne Förderbedarf.
04.09.2012
epd
Anke Sauter

Wenn Alice Doberschütz durch die Gänge ihres Schulhauses geht, kommt sie oft nur langsam voran. "Hallo, wie geht es dir?", fragt eine Schülerin die Rektorin. Ein Junge streichelt ihren Arm und wünscht einen guten Morgen. "Gehst du zum Schulkiosk? Was kaufst du dir?", fragt Doberschütz einen anderen, der gerade um die Ecke biegt. Mehr als 300 Jungen und Mädchen besuchen die Vincenzschule Aulhausen, und Doberschütz kennt sie alle mit Namen. Viele der Kinder wohnen auch hier, manche müssen rund um die Uhr gepflegt werden.

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Bislang gab es unter dem Dach des St. Vincenzstifts in Rüdesheim-Aulhausen drei Schularten: Die größte mit mehr als 200 Schülern ist die Schule für Praktisch Bildbare. Die Schülerschaft reicht von geistig Behinderten, die irgendwann vielleicht den Wechsel zur Schule für Lernhilfe schaffen, bis hin zu Schwerstmehrfachbehinderten. Wesentlich kleiner sind die Schule für Lernhilfe und die Schule für Erziehungshilfe. Schulbetrieb gibt es am katholischen Vincenzstift seit 1893.

Mit Begeisterung die Pläne schnell umgesetzt

"Wer, wenn nicht wir, soll mit der Inklusion anfangen?", fragt Doberschütz. Dennoch staunt sie selbst, wie schnell alles gegangen ist seit jenem ersten Gespräch mit Caspar Söling, dem Geschäftsführer der St. Vincenzstift gGmbH, über das Thema. Söling war begeistert, ebenso wie die Mehrheit des Kollegiums und der Eltern. Eine Projektgruppe wurde gebildet, man hielt nach Vorbildern Ausschau. Die gibt es außerhalb Hessens: die Waldhofschule in Templin etwa oder die Jakob-Muth-Schule in Nürnberg. 80 Seiten umfasste der Antrag, der 2011 kurz vor Heiligabend im Briefkasten des Staatlichen Schulamtes landete. Die Genehmigung kam dann im März.

Inzwischen sind auch die Skeptiker mit im Boot. Angelika Vitzthum zum Beispiel. Die gestandene Sonderpädagogin ist seit 31 Jahren in Aulhausen. Sie kann sich noch gut erinnern, welchen Fortschritt die Spezifizierung von Sonderschulen einst bedeutete. "An den Regelschulen gingen damals so viele Kinder unter. Wer da sein Mäppchen nicht schnell genug wegpacken konnte, hatte schon verloren", erzählt die 59-Jährige. Doch heute ist auch Vitzthum überzeugt von dem neuen Konzept. Zusammen mit Grundschullehrerin Anke Büchel leitet sie eine der beiden neuen Klassen, die Igelklasse.

Wenige Kinder, mehr Unterricht und zwei Pädagogen

Die Kinder der "Igelklasse" haben in den ersten Schultagen den Buchstaben A gelernt. Klar, dass das nicht bei allen 17 Kindern - sieben mit und zehn ohne Handicap - auf demselben Weg gelingt. Doch zwei Pädagoginnen, 28 statt 20 Schulstunden pro Woche und das Lernmaterial bieten gute Bedingungen. Die Klassenräume können zweigeteilt werden für einen nach Gruppen differenzierten Unterricht.

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Kein Wunder, dass es viele Anmeldungen gab für die neue Schule. Für Julia Brömser sind die kleinere Klasse und die größere Stundenzahl nicht das Hauptargument für die inklusive Grundschule. Die 45-jährige Mutter freut sich, dass ihrer zweiten Tochter nach dem Besuch der integrativen Kita der traurige Abschied von ihren Kita-Freunden erspart blieb, sie besucht die "Pinguinklasse": "Kinder müssen lernen, dass Menschen unterschiedlich sind. Und egal, ob behindert oder nichtbehindert - alle haben ihre Stärken." 

Meist geht es bei Inklusion um einen anderen Weg: Behinderte sollen in die allgemeine Gesellschaft aufgenommen werden und nicht umgekehrt. Auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde, schreibt das hessische Schulgesetz von 2011 vor, dass alle Schulen inklusiv arbeiten sollen. Dafür werden zunehmend Mittel bereitgestellt, pro Schule sind diese jedoch gedeckelt. Wegen mangelnder Ressourcen seien dieses Schuljahr 260 Anträge abgelehnt worden, kritisiert Kerstin Geis vom Landeselternbeirat Hessen.

"Die Inklusion in eine Förderschule zu bringen, ist eine prima Idee", findet Dorothea Friedrich vom Verein "Gemeinsam leben - gemeinsam lernen", der langfristig eine Abschaffung aller Förderschulen anstrebt. Auch das Kultusministerium lobt die Aulhausener Initiative als "Meilenstein für die Schulentwicklung". Auf die Erfahrungen sei man gespannt.