Günther Jauch und der #aufschrei

Günther Jauch un die Internet-Aktivistin Anne Wizorek
Foto: dpa/Karlheinz Schindler
Günther Jauch diskutierte am Sonntagabend unter anderem mit der Internet-Aktivistin Anne Wizorek, die den #aufschrei bei Twitter initiiert hat.
Günther Jauch und der #aufschrei
Deutschland diskutiert über Sexismus, seit eine "Stern"-Reporterin Rainer Brüderle vorwirft, er habe sie verbal belästigt. Jetzt landet der Fall Brüderle im TV-Talk bei Günther Jauch. Doch das Problem der alltäglichen Anmache überfordert Talkmaster und Gäste.

Hat Deutschland ein Sexismus-Problem? Eine einfache Antwort auf diese Frage hat an diesem Sonntagabend wohl niemand von Günther Jauch erwartet. Innerhalb weniger Tage haben mehr als 60.000 Betroffene über den Twitter-Hashtag #aufschrei von Belästigung, Nötigung, Sexismus im Alltag berichtet. „Die Debatte gleicht einem Kriegsausbruch“, kommentiert Literaturkritiker Hellmut Karasek zu Beginn der Talk-Runde und macht klar: Das Thema ist gewaltig.

Ein gefundenes Fressen

Jauch arbeitet sich zunächst am eigentlichen Auslöser ab: Brüderles Altherrenwitze. Entfacht hat die Debatte ein Artikel in der aktuellen Ausgabe des „Stern“. Laura Himmelreich, Korrespondentin im Berliner Hauptstadtbüro des Magazins, berichtet darin über eine Begegnung mit Rainer Brüderle vor dem traditionellen Dreikönigstreffen der FDP. Bei dem Treffen soll der heutige FDP-Spitzenkandidat an der Hotelbar anzügliche Bemerkungen gegenüber der Journalistin gemacht und ihre Hand geküsst haben. Allerdings liegt der Vorfall ein Jahr zurück. Ein gefundenes Fressen für Jauch. Ist Rainer Brüderle nun der deutsche Dominique Strauss-Kahn? Oder nur Opfer einer journalistischen Kampagne? „Der Text ist das Substrat einer Langzeitrecherche“, verteidigt Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn den Zeitpunkt der Veröffentlichung.

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Brüderles Parteikollegin Silvana Koch-Mehrin schafft es, die Debatte in eine andere Richtung zu lenken. „Die Diskussion ist wichtiger als die FDP,“ sagt die Europaabgeordnete. Sie outet sich als abgehärtet, was den saloppen, auch schlüpfrigen Tonfall im Politikgeschäft angeht. Der Fall Brüderle hat eine Debatte über das Verhältnis von Männern und Frauen, von Machtverhältnissen in der Arbeitswelt und im Privaten ausgelöst, wie sie seit vielen Jahren nicht in dieser Vehemenz geführt wurde. „Frauen werden immer noch nicht als professionelles Gegenüber akzeptiert“, bringt Altfeministin Alice Schwarzer die Diskussion auf den Punkt. Abwertende Blicke, der Kollege wird beim Gespräch bevorzugt, der Chef schlingt wie beiläufig den Arm um die Taille seiner Mitarbeiterin: Sexismus ist Alltag in Deutschland. „Viele Männer kennen die Realität von Frauen nicht“, sagt die 31 Jahre alte Internet-Aktivistin Anne Wizorek. Sie hat den Hashtag #aufschrei bei Twitter initiiert.

Keine Lust aufs "Opfer-Abo"

Das Problem ist erkannt. Aber wie sollen Männer und Frauen künftig miteinander umgehen? Bei Jauch weiß keiner so recht eine Antwort auf diese Frage. Ein Flirt, wenn er von beiden gewollt ist, ist erlaubt. Doch wann bleibt es beim Kompliment, wann fängt Sexismus an? „Die Grenzen was sexistisch ist, sind individuell“, sagt Aktivistin Wizorek. „Also bestimmt jede Frau selbst, wann etwas sexistisch ist?“ entgegnet Jauch. Der Moderator wirkt wenig überzeugt, überhaupt scheint er sich mehr über die Schelte Alice Schwarzers zu ärgern, er würde das Thema kleinreden, als der Diskussion die nötige Struktur geben zu wollen. Beinahe verzweifelt, versucht er immer wieder eine vermeintliche Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen zu betonen. Selbst die Männer, Karasek und Stern-Mann Osterkorn, lassen die Vorlage unkommentiert. Auf das "Opfer-Abo" hat hier keiner Lust.

Und nun? „Es wird sich nichts ändern“, sagt die Journalistin Wibke Bruns. Sie ist die Frau mit der "ist-doch-alles-gar-nicht-so-schlimm-Haltung". Dabei hat die heute 74-Jährige seit vielen Jahren Einblick in den Polit-Journalismus und müsste es eigentlich besser wissen. Stattdessen vergleicht sie Männer und Frauen mit Kühen und Stieren und kommt zu dem Schluss: „Die werden immer zu unterschiedlichen Spezien gehören. So ist das eben.“

Hellmut Karasek will sich den Blick auf den Busen seiner Interviewpartnerin jedenfalls nicht verbieten lassen. Eine Steilvorlage für den Dirndl-Satz („Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“), den auch Brüderle gegenüber der Reporterin angeblich losgelassen hat. Die Lacher aus dem Publikum sind auf Karaseks Seite. Da hilft auch die Rüge von Alice Schwarzer nichts, die 60.000 Twitter-Betroffenen Ernst zu nehmen.

Bleibt noch die Doppelmoral eines Magazins wie dem Stern, das jeden Gesundheitstitel auf dem Cover gerne mit einer nackten Frau ziert und sich nun zum Retter der sexuell Belästigten aufschwingt. Moderator Jauchs Kritik ist hauchzart, Chefredakteur Osterkorn diskutiert den Einwand geschickt weg.

Nettes Geplänkel über Anmache im Alltag

Vom eigentlichen Kern der Debatte entfernt sich die Talkrunde: Wie viel Nähe hält das Verhältnis von Journalisten und Politikern aus? Worüber wird Stillschweigen vereinbart, wann gibt es Grenzüberschreitungen? Auf die guten Geschichten stößt der Journalist – egal ob männlich oder weiblich – eben häufig erst nach der offiziellen Pressekonferenz, manchmal auch an der Hotelbar. Hat das durch den Fall Brüderle ein Ende? Im Jauch-Einspieler fürchtet „Spiegel“-Journalistin Christiane Hoffmann künftig erschwerte Arbeitsbedingungen für Journalistinnen.

Kurz vor Schluss noch ein Schlenker zu Brüderle. Einer Emnid-Umfrage zufolge fordern 90 Prozent der Deutschen eine Entschuldigung von dem FDP-Spitzenkandidaten, 45 Prozent wollen gar seinen Rücktritt. In der Talk-Runde schließt sich nur Internetaktivistin Wizorek der Mehrheit der Deutschen an. Selbst für Alice Schwarzer kommt eine Entschuldigung viel zu spät. Die Debatte sei ja längst viel weiter. Ja, das ist sie. Doch das nette Geplänkel über Anmache im Alltag lässt Jauch und seine Gäste ratlos zurück.

Schade, dass Günther Jauch nicht auch Wolfgang Kubicki eingeladen hat. Der FDP-Politiker hat in der „Bild am Sonntag“ verkündet, er werde Journalistinnen künftig weder als Wahlkampfbegleitung im Auto mitnehmen noch Gespräche an der Hotelbar führen. Denn natürlich rutsche einem da schon mal eine lockere und nicht gelungene Bemerkung heraus, so Kubicki. Jetzt müsse er damit rechnen, dass das gegen ihn verwendet werde. Auch eine Antwort auf den ganz alltäglichen Sexismus in Deutschland.