Der ohnehin effekthascherische Titelzusatz ist im Grunde glatt gelogen; aber eigentlich auch wieder nicht. Dieses Spiel mit Schein und Sein macht einen großen Teil der Faszination dieses Films aus, selbst wenn sich einige Ereignisse erst im Nachhinein erklären. Das gilt auch für die Erzählstimme, deren Erläuterungen aber zumeist gänzlich überflüssig sind; und die außerdem klingt, als würde Hauptdarstellerin Melika Foroutan ablesen, was sie vorträgt. Das stimmt sogar, wie man am Ende verblüfft feststellt, als die Geschichte dem Filmende einen weiteren Schluss hinterherschickt; und auch damit ist die Sache noch nicht vorbei.
Der Verräter
Dem Werk ist ohnehin anzumerken, wie sehr Drehbuch (Thorsten Wettcke, nach einer Idee von Friedrich Ani) und Regie (Christiane Balthasar) darum bemüht waren, keinen Krimi von der Stange abzuliefern. Mitunter führt das fast zu weit, wenn beispielsweise Bildsprünge für Dynamik sorgen sollen. Auch die falschen Fährten sind ein festes Stilmittel. Das beginnt schon mit der ersten Szene der Hauptfigur. Ines Meder ist Spezialistin des BKA für das Zeugenschutzprogramm, und während sie auf ihre nächste Schutzbefohlene wartet, klaut jemand ihre Tasche aus dem Auto. Der Täter ist aber bloß ihr Kollege (Florian Panzner), der ihr einen Geburtstagsstreich spielen wollte. Da ist das, was auf Ines zukommt, von ganz anderem Kaliber: Evelyn Frank (Iris Berben) war als Chefin eines Luxusbordells jahrelang in Menschenhandel und Zwangsprostitution verwickelt. Nun will sie als Kronzeugin gegen die einstigen Komplizen aussagen. Das BKA hat ihr eine neue Identität verschafft und versteckt sie irgendwo in den bayerischen Bergen. Ines soll auf die in Gangsterkreisen wegen ihrer Gefühlskälte bloß Eiskönigin genannte Unterweltgröße aufpassen und gleichzeitig nach dem Verbleib von 15 Millionen Euro forschen, die Evelyn angeblich hat mitgehen lassen.
Während die beiden ungleichen Frauen einen unverhofften Draht zueinander finden und beginnen, sich zu mögen, schleichen unabhängig voneinander zwei Gestalten durch den Hintergrund, die offenkundig nichts Gutes im Schilde führen. Hier die emotionale Spannung, weil Evelyn mehr und mehr mütterliche Gefühle für Ines zu entwickeln scheint, dort die beiden vermeintlichen Heckenschützen (Alexander Held, Tim Wilde), mit deren Motiven der Film lange hinterm Berg hält: Das ist schon ziemlich geschickt, wie Buch und Regie die Spannung auf zwei Ebenen verteilen. Hinzu kommt, dass Ines seit Jahren ihren verheirateten Kollegen liebt. Außerdem bewegt sich die an ein Leben im Luxus gewöhnte Evelyn in ihrer neuen Rolle als Küchenkraft in einem Ausflugslokal auf buchstäblich unbekanntem Terrain. Als schließlich allen Schutzmaßnahmen zum Trotz ein Anschlag auf sie verübt wird, dämmert Ines, dass es in ihrem unmittelbaren Umfeld einen Verräter geben muss.
Sieht man über einige Details wie den langen Monolog Melika Foroutans gleich zu Beginn oder die diversen musikalischen Ausrufezeichen hinweg, ist "Die Kronzeugin" ein fesselnder, glaubwürdig gespielter Thriller über die Frage, ob man lieber für einen Tag ein Tiger oder für tausend Tage ein Schaf sein möchte. Herausragend ist auch die Bildgestaltung, weil die Kamera (Hannes Hubach) nach ungewöhnlichen eigenen Wegen sucht. Außerdem ist der Film immer wieder für Überraschungen gut; vor allem am Schluss.