"Wenn die Hand zu kalt ist, messe ich den Puls"

Foto: epd-bild/Rolf Zöllner
Zwei Obdachlose werden mit dem Kältebus der Berliner Stadtmission zur Notübernachtung der Nazareth Gemeinde am Leopoldplatz im Wedding gefahren. Die Männer hatten im Geldautomatenraum einer Sparkasse am Kleistpark Schutz vor der Kälte gesucht.
"Wenn die Hand zu kalt ist, messe ich den Puls"
Mit Schokolade, heißem Kaffee und Schlafsäcken gehen Mitarbeiter der Stadtmission auf Obdachlose zu, um ihnen in der kalten Jahreszeit Hilfe anzubieten. Manche fahren mit in die Notübernachtung, andere wiederum wollen nicht gestört werden.
11.01.2013
epd
Gunnar Lammert-Türk

"Schokolade ist ein richtiger Eisbrecher", sagt Katja Klünder beim Packen der Ausrüstung für den Kältebus der Berliner Stadtmission. Die süßen Tafeln sind eine Art Türöffner für das Gespräch mit den Obdachlosen der Stadt, eine Geste, die Vorsicht und Misstrauen aufbrechen kann. Denn auch wer ihnen helfen will, dringt in ihre Privatsphäre ein. Oder wie Katja es ausdrückt: "Man betritt anderer Leute Schlafzimmer."

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Überdies ist Schokolade ein schneller Energiespender, für einen von Kälte geschwächten Körper ebenso wichtig wie heißer Tee, der deshalb stark gesüßt wird. Kaffee wird noch mitgenommen, ein paar Schlafsäcke, Teelichter. Und weil das Weihnachtsfest erst ein paar Tage zurückliegt, auch Tüten mit Stollen.

Der Minimalgesundheitscheck

Katja, die den Bus in dieser Nacht fährt, ist Rechtsanwältin. Es ist der vierte Winter, in dem sie dabei ist. Ihre Beifahrerin Elfriede Weiß, eine Krankenschwester, fährt zum ersten Mal mit. Susannah Krügener, die die Einsätze der ehrenamtlichen Helfer koordiniert, hat sich für ein paar Stunden dazu gesellt. Um 21 Uhr brechen sie von der Stadtmission in der Lehrter Straße auf.

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Am wolkenlosen Himmel deutet der Mond mit silbrig-eisigem Schimmer die Kälte der Nacht an. Aufmerksam streifen ihre Blicke über Hauseingänge und die Räume von Banken und Sparkassen mit den Geldautomaten. Unter Brücken und in Parks wird nachgesehen, ob jemand Hilfe benötigt. Vorerst gab es noch keinen Anruf aus der Bevölkerung oder von der Polizei. So geht die Fahrt zunächst zu bekannten Schlafplätzen.

In einem kleinen Park in Moabit hat sich ein Paar im Schutz einer überdachten Mauer sein Winterquartier auf einer Bank eingerichtet. Die Frau mag Mitte vierzig sein, der Mann ist älter. Susannah Krügener gibt beiden die Hand. Nicht nur aus Höflichkeit. "Das ist mein Minimalgesundheitscheck", erklärt sie später. "Wenn die Hand zu kalt ist, mess ich gleich den Puls." Es ist diesmal nicht nötig. Auch die Schokolade kommt nicht zum Einsatz. Dafür Kaffee und ein Teelicht.

Zahllose Säcke, Püppchen und ein Weihnachtsbaum

Es wird ein wenig geplaudert. Vor kurzem hätte wieder einer in der Nähe gezündelt, erzählt die Frau. Gut, dass auf der anderen Straßenseite ein Nachtpförtner eine Einrichtung bewacht. Im Augenblick geht es den beiden gut. Sie haben sogar Besuch. Ein Flaschensammler, der hier sein Revier hat, hat ihnen Bananen mitgebracht.

Wenig später kommt ein Anruf der Polizei vom Ostbahnhof. Ein paar Männer wollen in eine Notübernachtung. "Ich werd immer wütend, wenn die mich als Taxi benutzen", murrt Susannah Krügener, die Bequemlichkeit mutmaßt. Wer sich noch selbst bewegen kann, soll das auch tun, damit die Kältebusfahrer sich um akute Fälle kümmern können.

Also weiter zum Innsbrucker Platz, wo seit Oktober eine Art Wohnstube in einer hell erleuchteten Haltestelle, unweit der Stadtautobahn, vor dem Eingang zur U-Bahn existiert. Neben zahllosen Säcken hat die Frau, die hier überwintert, Vasen und Püppchen, Teppiche, sogar einen Weihnachtsbaum und drei Hunde dabei. Ein vierter gehört einem Freund, der Wache hält, während sie etwas erledigen gegangen ist.

In geräumigen Eingangsnischen

Am Ostbahnhof dann sind alle Raucherinseln von Obdachlosen besetzt. Einer kann sich kaum bewegen. "Lasst mich bloß nicht fallen!" wimmert er, als er zum Auto gebracht wird. Ein Mann mit verschwollenem Gesicht und zahlreichen blutigen Stellen am Kopf muss auch gestützt werden. Es kommen noch zwei dazu, die besser zu Fuß sind. Sie fahren nun nicht nur einem sicheren Nachtlager entgegen, sie entkommen auch den Zänkereien, die, vom Alkohol und der Bitterkeit über das eigene Elend befördert, am Ostbahnhof unter den Obdachlosen aufgekommen sind. Als sie in der Notübernachtung vor der dampfenden Suppe sitzen, kommen einem von ihnen die Tränen.

Es geht auf Mitternacht. Bisher war es recht ruhig. In anderen Nächten klingelt das Telefon ständig. Bis drei Uhr morgens wird der Kältebus noch unterwegs sein. In der geräumigen Eingangsnische eines verlassenen Restaurants in Charlottenburg liegt ein Mann, mit dem Rücken zur Straße. Ob er Hilfe brauche, fragt Katja. "Nein danke", antwortet er, mehr nicht. Ob er einen Kaffee oder Tee möchte. "Nein danke!" Der Mann hat es warm, er will nicht gestört werden. "Ich lass Ihnen mal eine Schokolade da", sagt Katja und legt einen "Eisbrecher" vor den Schlafsack.