Die Idee ist nicht neu: Nach dem Tod eines geliebten Menschen erfährt man, dass der Partner ein Doppelleben geführt hat; prompt beschleicht einen das Gefühl, man habe die ganze Zeit mit einem Fremden verbracht. Meist sind es Männer, denen ein Leben nicht genügt hat; und meist waren dabei andere Frauen im Spiel. Lehrerin Martha macht eine ähnliche und doch ganz andere Erfahrung: Gatte Paul, angehender Mediziner, hat jahrelang brav jeden Morgen das Haus verlassen. Als sie dem Doktorvater mitteilen will, dass Paul nicht mehr lebt, kennt der Professor ihren Mann überhaupt nicht. Schockiert erfährt sie, dass Paul schon lange nicht mehr immatrikuliert ist. Sie hat die letzten vier Jahre mit einer Lüge gelebt.
Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn
Jan Schomburg (Buch und Regie) erzählt Marthas Geschichte in seinem ersten Langfilm zunächst konsequent aus ihrer Perspektive: wie sie mit Paul (Felix Knopp) die Promotion feiert, wie sie sich in der Schule verabschiedet, weil er eine Stelle in Marseille antreten wird, wie sie ihn zum Aufbruch drängt, weil er sich gar nicht losreißen kann. Und wie sie reagiert, als ihr zwei Polizistinnen die Todesnachricht überbringen: Paul hat sich in Frankreich mit Hilfe der Auspuffgase seines Wagens das Leben genommen. Martha will das nicht glauben, und spätestens jetzt zeigt sich, wie unglaublich gut sich Sandra Hüller diese Rolle zu eigen gemacht hat: Genau so, kann man sich vorstellen, würde man selbst reagieren, mit dieser Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn. Eher unwillig als besorgt hinterlässt sie noch im Beisein der Polizei eine erste Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Pauls Mobiltelefon, eher verwirrt als betroffen ruft sie ein weiteres Mal an, nachdem sie die Leiche anhand von Fotos identifiziert hat ("Was machst du denn für Sachen?"). Wie groß auch immer Schomburgs Anteil an Hüllers Leistung war: Sie ist bemerkenswert.
Die Natürlichkeit der vor einigen Jahren für "Requiem" vielfach ausgezeichneten Hauptdarstellerin, deren Arbeit so gar nicht nach Schauspielerei aussieht, hat auch zur Folge, dass man Marthas weiteres Verhalten akzeptiert: Praktisch übergangslos beginnt sie eine Beziehung mit dem Geschichtsdozenten Alexander (Georg Friedrich), ohne ihm von dem Schicksalsschlag zu berichten. Der Historiker ist zwar irritiert, als sich Martha ihm distanzlos an den Hals wirft, lässt es aber auch gern mit sich geschehen; bis er zufällig rausfindet, was ihr widerfahren ist.
Martha wird auf Alexander aufmerksam, weil er sich auf ähnliche Weise wie Paul die Haare aus der Stirn streicht. Da Schomburg keine Darsteller fand, die einander ähnelten, hatte er zwischenzeitlich sogar erwogen, die beiden Männer vom selben Schauspieler verkörpern zu lassen. Die Tatsache, dass sich Knopp und Friedrich nicht mal flüchtig ähnlich sehen, macht es etwas schwer, Marthas Verhalten nachzuvollziehen. Dass dies nicht zum großen Manko des Films wird, ist vor allem Hüllers Talent, aber auch Schomburgs Drehbuch zu verdanken. Er verdeutlicht von vornherein, dass Martha eine ganz eigenwillige Art zu trauern hat: "Menschen sterben eben." Außerdem wechselt Schomburg in der Mitte des Films radikal die Perspektive: Nun wird die Handlung aus Sicht Alexanders erzählt. Die Idee ist brillant, denn sie verleiht der Geschichte einen ganz eigenen Reiz: Der neue Freund kann ja nicht ahnen, dass Martha mit ihm die bewährten ehelichen Rituale durchspielt, weil sie sonst womöglich den Verstand verlieren würde.