Mutter mit Demenz: "Die Liebe neu entdecken"

Foto: Sieveking
Else Schaumann, ihre Tochter Margarete "Gretel" und Malte Sieveking neben seiner Mutter Eva Sieveking am Tag ihrer Hochzeit 1966 in Hamburg. Auch Else Schaumann hatte Demenz und wurde von ihren Töchtern gepflegt.
Mutter mit Demenz: "Die Liebe neu entdecken"
Regisseur David Sieveking hat einen Dokumentarfilm über die letzten eineinhalb Jahre seiner an Demenz erkrankten Mutter gedreht. Demenz lässt den Menschen verschwinden, den man gekannt hat, sagt er. Doch wenn man offen ist, bekommt man einen Neuen.
14.01.2013
evangelisch.de

Haben Sie mal daran gezweifelt, dass es richtig ist, so einen persönlichen Film über ihre Familie zu machen? 

David Sieveking: Ja, natürlich. Wenn man einen Film macht, der sich um die Erkrankung der eigenen Mutter dreht, die dabei ihr Reflektionsvermögen verliert, die gar nicht genau weiß, wie ihr geschieht, fragt man sich natürlich, ob man dazu eigentlich das Recht hat. Ich habe dann die Bedingung aufgestellt, dass ich den Film nur mache, wenn ich das Gefühl habe, dass das meiner Mutter hilft  und meine Eltern davon profitieren. Und jetzt kann ich sagen: Es hat meiner Mutter sicherlich geholfen, dass der Film entstanden ist, weil ich einfach viel mehr Zeit hatte, mich zu kümmern. Und auch für meinen Vater war es gut, weil man ja in der Pflege oft vereinsamt. Durch das Filmteam war Abwechslung und Austausch da, den es sonst nicht gegeben hätte. Selbst wenn man ein sozial aktiver Mensch war, läuft man schnell Gefahr, sich in der Hilfe und Fürsorge für seinen Partner zu isolieren, weil man nie weg kann und es oft den alten Freunden oder der Familie schwerfällt, mit der Demenz umzugehen

Gretel und David Sieveking 2011 Zuhause in Bad Homburg (Hessen).

Dass Sie zuhause wieder mehr im Leben ihrer Mutter integriert waren, ist die eine Seite, aber sie machen ja einen Film, der öffentlich wird...

Sieveking: Das ist dann die Kehrseite. Mit meinen Geschwistern und der weiteren, größeren Familie haben wir auch darüber gesprochen und uns gefragt: Darf man meine Mutter in einem Film zeigen, ohne zu wissen, ob sie damit einverstanden wäre? Ausschlaggebend für mich war, dass die Dreharbeiten meiner Mutter nicht unangenehm waren und ich mit meiner Mutter auch schon vor der Kamera auch über intime Fragen und private Angelegenheiten zu sprechen. Und ich habe großen Wert darauf gelegt, ihr im Film die Würde zu lassen. Es ist auch eine Frage des Tonfalls, den man wählt, ob diese Art von Intimität oder Privatheit erträglich ist. Zum Glück finden mein Vater und meine Geschwister den Film so gut wie er geworden ist und wir glauben, dass meine Mutter mit dem Ergebnis einverstanden wäre.

"Eine Haltung finden, die nicht nur den Verlust betrauert"

Im Film trifft ihre Mutter im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit auf ihre alten Freundinnen. Die wirken sehr betroffen und hilflos. Ist es als Angehöriger leichter, mit der Krankheit umzugehen, als für das Umfeld?

Sieveking: Ich habe anfangs ganz ähnlich reagiert wie die Freunde meiner Mutter. Aber ich konnte oder wollte ihr ja nicht langfristig aus dem Weg gehen. Wenn man jemanden nur alle halbe Jahr sieht, dann ist das natürlich ein viel größerer Schock, als wenn da eine Kontinuität in der Begegnung ist. Dann wirkt die Veränderung nicht so frappierend und schrecklich. Aber bevor ich mit den Dreharbeiten angefangen habe, war der rasante geistige Abbau meiner Mutter immer wieder verstörend für mich. Damals bin ich ja auch nur alle halbe Jahr mal Zuhause aufgekreuzt. Dann begegnete ich nicht mehr dem Menschen, dem ich das Mal zuvor begegnet bin – das hat mich immer sehr erschüttert.

###mehr-info###Diesen Reflex, nämlich sich an das Bild meiner Mutter von früher zu klammern, habe ich auch bei den Freunden meiner Mutter gesehen. Gerade ihre besten Freundinnen hatten verdammt schwer gekämpft, weil die Konfrontation mit ihr auch in ihnen selbst Ängste auslöst. Wer weiß, was man schon für bedenkliche Beobachtungen an sich selbst gemacht hat, wie vergesslich man sich schon selbst fühlt. "Und gerade sie", habe ich öfter über meine Mutter gehört, "da hätte man das ja gar nicht erwartet", sie war ja immer so geistig aktiv und konnte mehrere Sprachen. Sie hat gesund gelebt, regelmäßig geturnt und schon vor über zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört.

Können sie das Schockierende an der Demenz genauer beschreiben?

Sieveking: Mit dem fortschreitenden Verlust von geistigen und körperlichen Fähigkeiten geht einem der Mensch verloren, den man kennt und den man lieb hat. Derjenige, der dich immer bedingungslos geliebt hat, deine Mutter, vergisst dich. Das macht einen einfach fassungslos, weil sich jemand innerhalb von Wochen und Monaten unwiederbringlich verabschiedet, aber doch noch da bleibt. Wenn die Erinnerung flöten gegangen ist, weiß man ja auch gar nicht, worüber man noch reden soll. Das zu akzeptieren und zu versuchen, aus dieser Situation das Beste zu machen, ist wahnsinnig schwer.

###mehr-links###Meine Mutter war eine sehr intellektuelle, blitzgescheite Frau, unter ihren Freundinnen war sie so eine Art Wortführerin. Zuhause haben wir auch immer viel zusammen diskutiert. Und plötzlich geht das nicht mehr. Und bis man sich da wieder orientiert und neu aufgestellt hat und Sachen findet, die auch wieder schön sind, die man zusammen machen kann. Das ist nicht einfach. Eine Haltung zu finden, die nicht nur den Verlust betrauert, sondern guckt was noch geht oder was sich vielleicht sogar neu ergibt. Leute, die meine Mutter nicht so gut von früher kannten, konnten damit oft leichter umgehen. Einige Bekannte und Familie, die ihr eigentlich nicht so nahe waren, haben in der Phase, als Gretel sich so stark veränderte, dann näher zu uns gefunden. Denen tat das dann nicht so weh, sie so neu kennenzulernen und mit ihr umzugehen. 

Können Sie der Krankheit auch etwas Positives abgewinnen? 

Sieveking: Mein Vater hat es mal provokant ausgedrückt, indem er sagte, er sei der Demenz dankbar, weil er dadurch die Liebe zu meiner Mutter noch mal neu erfahren, neu entdecken konnte. Auf eine Art und Weise, wie das unter Umständen gar nicht möglich gewesen wäre, wenn sie nicht ihr Gedächtnis verloren hätte, weil durch die Bewusstseinsveränderung auch die alten Vorstellungen und Beziehungsmuster verschwanden. Nach vierzig Jahren Ehe wurde die Beziehung meiner Eltern auf einmal radikal in Frage gestellt. Durch die Demenz erlebte mein Vater, dass es auch schön sein kann, gebraucht zu werden und für jemanden zu sorgen, im ganz konkreten Sinne.

Malte und Gretel Sieveking im Jahr 2011 Zuhause in Bad Homburg (Hessen).

Eigentlich hat uns meine Mutter dann beigebracht, wie schön es ist, sich mal zu umarmen, zu kuscheln. Das gab es bei uns vorher nicht so direkt. Es war zwar vorher auch nicht gerade gefühlskalt bei uns, aber es war eben eher intellektuell-distanziert als körperlich-emotional. Meine Mutter hat uns dann gezeigt, dass man nicht viele Worte machen muss, um sich Liebe zu zeigen. Mein Vater meinte einmal gegenüber meiner Mutter, die Sachen werden jetzt von ihr auf den Punkt gebracht. Obwohl sie die Fähigkeit verloren hatte, ein richtiges Gespräch zu führen, konnte sie Emotionen sehr effizient und direkt zum Ausdruck bringen. Es wurde nichts mehr versteckt. Sie sagte dann ehrliche Sachen wie: "Das mag ich. Das mag ich nicht", oder "Ich will dich haben", "Du bist mein Wichtigster." Vorher war das vielleicht auch so gefühlt, aber sie hat das nicht so ungefiltert ausgedrückt. Das sind Sachen, die ich positiv empfunden habe in der Zeit ihrer Erkrankung.

Demenz ist eine sehr philosophische Krankheit in dem Sinne, das man gezwungen ist, über das Leben grundsätzlich und unser Bewusstsein nachzudenken. Und es ist eine spirituelle Herausforderung, indem man angehalten ist, nicht an dem zu klammern, was war und was vielleicht mal sein wird. Man muss gucken: Was geht jetzt noch? Ich habe durch meine Mutter auch gelernt, mich an Kleinigkeiten und Beobachtungen zu freuen, gewohnte oder alltägliche Dinge neu zu betrachten. Mit meiner Mutter machte ich die Erfahrung, ein Lagerfeuer oder ein Gewitter zu sehen, als wäre es das erste Mal. Mich hat auch fasziniert, mit welcher Begeisterung meine Mutter Vögel beobachtete und wie scharfsichtig sie in gewisser Beziehung geworden war, ohne zu wissen, wo sie sich eigentlich befand.

Sie haben dann Hilfe für ihre Mutter in Anspruch nehmen müssen. Sie war kurz in einem Pflegeheim und später hatten sie eine Pflegerin Zuhause.

Sieveking: Mein Vater sagte im Nachhinein, er hätte sich viel früher Hilfe holen sollen. Es hat ja auch nicht jeder einen Sohn, der Dokumentarfilmer ist, der dann einfach mal nach Hause ziehen kann. Man muss gucken: Wo sind eigentlich die Grenzen der eigenen Kräfte? Und wie kann ich mir dann adäquate Hilfe suchen? Ich fand eine Angehörigengruppe sehr hilfreich, in der sich Menschen treffen, die einen Demenzerkrankten pflegen und sich darüber austauschen. 

Wann ist der Zeitpunkt, an dem man nicht mehr alleine pflegen kann? 

Sieveking: Das kann man nicht so pauschal beantworten, das ist eine sehr individuelle Frage. Es gibt diesen Punkt, wo es bei der Pflege nicht mehr so sehr um den Betroffenen selber geht, sondern um den oder die pfelgenden Angehörigen. Ich glaube, irgendwann ging es meiner Mutter nicht mehr darum, wer sich um sie kümmert. Es war ihr nicht mehr wichtig, dass es Familie war. Hauptsache, es passiert liebevoll, warmherzig und sensibel und im richtigen Tonfall. Und dabei geht es dann um den Pflegenden selbst: Will er das überhaupt machen, und kriegt er das hin, ohne allzu viel schlechte Laune? Sich aus schlechtem Gewissen um einen anderen Menschen zu kümmern ist kein guter Motor. Es treibt einen zwar an, aber das kommt irgendwann durch, vergiftet die Stimmung und ist ungesund.

"Der Film war kein harmonischer Spaziergang"

Bei meiner Mutter habe ich gemerkt: Sie konnte sich zwar nicht mehr gut ausdrücken und sich erinnern. Aber sie konnte unheimlich gut spüren, was Sache ist. Sogar besser, glaube ich, als viele, die keine Demenz haben. Vielleicht sind die Sensoren und Gefühlsrezeptoren dann freier? Wir anderen denken ja die ganze Zeit an irgendwelche Ziele und Pläneoder Vergangenes. Meine Mutter sah einfach in dein Gesicht und hat ganz präzise gespürt, ob du schlecht drauf bist oder nicht und hat dann darauf reagiert und oft die Gefühle des anderen gespiegelt. Wenn also die ganze Zeit jemand zuhause missmutig seinen Job machte, dann hatte sie eben auch keinen Bock mehr. Dann wollte sie auch nicht mehr aufstehen. Deswegen muss man auch sich selbst beobachten und schauen, ob man es noch gut macht mit der Pflege. Man erntet, was man sät, bildlich gesprochen.

Im Film weint ihre Schwester, weil sie so unglücklich über den Zustand ihrer Mutter ist, und eine Pflegerin lächelt ihre Mutter an und streichelt ihr die Hand. 

Sieveking: Man möchte immer wieder weinen, wenn die eigene Mutter schleichend verloren geht. Und dann darf man vor ihr aber nicht, denn man soll ihr ja mit guter Laune begegnen. Das macht die Pflege gerade für Angehörige oft doppelt schwer. Dabei könnte man an sich eine gute Zeit haben, wenn man nicht all die Erinnerungen und Vorstellungen von früher im Kopf hätte, die einen schmerzen. Ich hatte den Vorteil, dass ich vor allem durch die Arbeit am Film und später am Buch sehr viel Zeit mit meiner Mutter verbracht habe und ihre Demenz und ihr Sterben im Endeffekt gut verteilt verarbeiten konnte.

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Aber ich habe während der Dreharbeiten auch öfter gedacht: "Ich schmeiß' das hin, ich will das nicht mehr, ich will nicht meine Mutter so elend sehen und dann noch einen Film darüber machen, dass alles den Bach runter geht." Der Film war kein harmonischer Spaziergang. Es hätte ja auch sein können, dass sie einfach nur liegen bleibt und man gar nichts erreicht. Und dann kam dieser Punkt, dieser magische Moment während der Dreharbeiten, wo sie auf einmal zu mir sagte: "Kommst du mit?" Und sie nach Stuttgart fahren wollte, wo sie geboren wurde. Da hat sie dann von selber eine Reise losgetreten, was wir gar nicht mehr erwartet hätten.

Haben Sie Angst davor, selbst dement zu werden?

Sieveking: Nicht übermäßig. Ich hatte noch so viele heitere und schöne Erfahrungen mit meiner Mutter trotz ihrer fortgeschrittenen Demenz. Ich habe einige Leute mit Demenz getroffen, die in ihrer Verwirrung einen sehr seligen Eindruck auf mich machten. Alzheimer verhindert nicht, dass man glücklich sein kann, wenn man einmal über diese Phase hinweg ist, während der man verzweifelt am alten Selbstbild klammert und Angst hat, dass das Ich verloren geht. Wenn man sozusagen das eigene Vergessen vergessen hat. Ich glaube, wenn es gelingt, genügend Leute um sich zu haben, die einen gerne haben, und die für einen sorgen, braucht man sich da nicht zu große Sorgen zu machen. Leider lässt der Staat momentan die Familie noch zu sehr alleine bei der Herkules-Aufgabe der Altenpflege. Es gibt hervorragende Pflegeheime, aber bei der Welle von Demenz, die auf uns zurollt, wird die Familie das Hauptstandbein in der Pflege sein müssen.

"Nicht den Mut verlieren in schweren Zeiten"

Wenn Sie dement werden würden, würden sie wollen, dass ihre Familie sie pflegt? 

Sieveking: Ja, wenn meine Familie das leisten kann und auch Freude daran hätte. Aber ich würde auch ins Pflegeheim gehen, in der Hoffnung, dass es bis dahin viele gute Einrichtungen gibt und der Pflegeberuf gesellschaftlich aufgewertet ist. Die Arbeit sollte besser bezahlt werden und die Leute sollten mehr Anerkennung kriegen für den Job. Dafür, dass wir fast alle irgendwann jemanden brauchen, der sich um uns kümmert, hat der Pflegeberuf einen viel zu schlechten Ruf. Es wäre auch gut, wenn man ähnlich wie beim Kinderkriegen, wo es ja durch Eltern- und Kindergeld große Hilfe vom Staat gibt, auch dabei unterstützt würde, wenn man sich entschließt, seine Eltern zu pflegen. Dass man auch die Zeit eingeräumt bekommt, die man braucht, um sich zu kümmern. So wie es jetzt ist, ist es wahnsinnig schwierig für Berufstätige, jemanden zu pflegen, besonders wenn man noch eigene Kinder zu versorgen hat.

Bei uns zu Hause war es ja auch irgendwie ein Glücksfall. Mein Vater wurde pensioniert, dann kam die Demenz-Diagnose meiner Mutter. So hatte er neben seiner Rente auch die Zeit, sich um sie zu kümmern. Außerdem hatten wir das Glück, dass ich noch keine eigenen Kinder habe, diesen Film drehen konnte und dass wir uns eine Pflegehilfskraft zu Hause leisten konnten, die im letzten Jahr mit meiner Mutter eine unschätzbare Unterstützung war. Aber oft sind die Leute ja ganz alleine. Und wer springt dann ein? Ich hoffe, mein Film hilft ein Stück weit, sich den Herausforderungen des Alterns zu stellen und nicht den Mut zu verlieren, wenn schwere Zeiten ins Haus stehen.