Keine Rittertätigkeit

Foto: epd-bild/Cindi Jacobs
"Paro" ist eine elektronische Kuschelrobbe, im Bremer Seniorenpflegeheim Haus O'land heißt er "Ole". Waltraud Kottmus (r.) lernt ihn hier gerade kennen.
Keine Rittertätigkeit
Annette Wagner beschäftigt sich seit 15 Jahren als Filmautorin mit dem Thema Demenz. Sie hat verschiedene Therapiemethoden kritisch betrachtet und den Kuschelroboter "Paro" bei seinem Einsatz im Altenheim begleitet. Während der Arbeit hat sich ihre Einstellung zum Einsatz von Technik verändert, und sie kann heute besser Zugang zu Menschen mit Demenz finden.
24.01.2013
evangelisch.de

Wie war ihr erster Kontakt zu Menschen mit Demenz und wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Annette Wagner: Mein erster Kontakt war vor 15 Jahren, als ich für den SWR eine Reportage aus einer Wohngruppe für Menschen mit Demenz auf der Schwäbischen Alb gemacht habe. Ich fühlte mich damals heillos überfordert und wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich war voller Bewunderung für den jungen Pfleger, der ziemlich gefasst damit umging, dass ihn alte Frauen umarmt haben oder auch mal sehr zärtlich wurden mit ihm, weil sie ihn mit ihrem Liebsten verwechselt haben. Bewundert habe ich auch die Fröhlichkeit, die er durch seinen unbefangenen Umgang mit den Menschen in diese Gruppe gebracht hat.

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Geprägt war die damalige Reportage auch vom damals vorherrschenden Ansatz, den man "Realitätsorientierungstraining" (ROT) nennt. Man versuchte beständig, das Erinnern und die kognitiven Fähigkeiten zu trainieren, das Bestehende festzuhalten. Eine Situation werde ich nie vergessen: Eine Runde von älteren Damen saß in der Küche und schälte mit flinken Händen verschiedenes Obst. Die Hände erinnern sich ja noch sehr viel länger als der Kopf an das früh Gelernte. Da saßen die ganz munter und fröhlich - bis der Pfleger damit ein Realitätsorientierungstraining verknüpfte. Er sagte: "Ja, Frau Wulf, was ist denn jetzt das, was Sie in der Hand halten? Ist das ein Apfel?" Sie hatte eine Orange in der Hand und guckte ganz verzweifelt auf dieses Ding. Bisher war sie ganz fröhlich. Dann fragte er: "Ist das eine Banane?" Sie guckte wieder auf das Ding und wurde noch irritierter und ärgerlich und frustriert. Dann schaute sie ihn ganz böse an und sagte: "Obst ist Obst!"

Damit hat sie ihm gesagt: "Wer bist du eigentlich, dass du mir vorführst, was ich alles nicht mehr kann?" Das ist genau der Schritt, den man heute, 15 Jahre später, weiter ist: desorientierte Menschen so sein zu lassen, wie sie sind; zu versuchen, ihnen in ihrer Welt zu begegnen, in ihrer Realität - anstatt sie festhalten oder irgendwohin zerren zu wollen.

Jetzt haben Sie sich schon 15 Jahre mit demenzkranken Menschen beschäftigt. Finden Sie sich in deren Wirklichkeit zunehmend besser zurecht?

Wagner: Ich habe gelernt, auch durch die Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsansatz von Naomi Feil, der Validation, "in den Schuhen des anderen zu gehen", wie sie das nennt. Heute kann ich es akzeptieren, dass ich nicht verstehe, was möglicherweise im Kopf von jemandem vorgeht. Aber ich kann spüren, was dessen Wünsche und Bedürfnisse gerade sind, und nonverbal eine Verbindung herstellen, auch wenn wir nicht miteinander sprechen können. Wir sind so auf dieses Sich-Verständigen über Sprechen ausgerichtet, dass wir andere und auch uns selbst entwerten, wenn die Kommunikationsfähigkeit über Sprache wegbricht.

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Nichts anderes ist Demenz ja: Die Sprache geht verloren, die Erinnerung geht verloren, beziehungsweise: erst mal gerät die chronologische Ordnung der Erinnerung durcheinander. Auf einmal steht alles nebeneinander: Gerade bin ich noch ein kleines Mädchen mit einer Puppe auf dem Arm; dann ist die Puppe plötzlich mein Baby, das ich selbst an der Brust halte; und im nächsten Moment weiß ich, dass ich eine alte Frau in einem Heim bin und meine Kinder mich nicht mehr besuchen - und mir kommen die Tränen. All diese Realitäten stehen ja nebeneinander, und zwischen denen bewegt sich eine desorientierte alte Frau. Das auszuhalten, ist ziemlich schrecklich.

Es ist auch schwierig für Angehörige (insbesondere für Söhne und Töchter), den Rollenwechsel zu akzeptieren - vom Versorgtwerden als Kind zum Versorger der Eltern, vom Aufgezogenwerden zum Fürsorglichen. Man verliert ja in dem Moment bei vollem Bewusstsein Vater und Mutter. Sie dann in einer neuen Rolle wieder annehmen und lieben zu können, das halte ich mit für das Schwerste.

Wie geht das denn? Wie kann man eine Beziehung zu einem Menschen mit Demenz aufbauen und mit ihm kommunizieren?

Wagner: In den ersten Stadien ist ein sprachliches Wiederanknüpfen an schöne Erinnerungen sinnvoll, die den Menschen ausgemacht haben in seiner früheren Welt: also das Mannsein, das Frausein, das Muttersein, das - und hier kommen wir dann zum Kuschelroboter - die Beziehung zu einem Haustier, die Beziehung zu Kindern. Darüber reden und auch fühlen, Fotos betrachten - dieses Aufhalten in Welten, die stärken, die glückliche Erinnerungen hervorrufen. Damit stärkt man auch das vegetative Nervensystem und das körperliche Befinden: die Atmung wird ruhiger, es werden weniger Stresshormone ausgeschüttet. Dieser sensitive Ansatz wird von manchen herablassend als "Wohlfühlpflege" bezeichnet. Aber in dem Moment, in dem ein Mensch mit Demenz sich wohlfühlt, ist seine Anspannung geringer, ist er offener für ein Gespräch, für irgendeine Form von Kontaktaufnahme. Wer glücklich ist, ist leichter zu erreichen.

Sie haben ein Multimediaprojekt über einen Zuwendungsroboter, die Kuschelrobbe "Paro" gemacht. Wie bewerten Sie den Einsatz von Maschinen zur Betreuung von Menschen mit Demenz?

Wagner: Als ich vor drei Jahre mit dem Projekt begann, stand am Anfang meinerseits große Skepsis bis Entsetzen - und das Missverständnis: "Oh Gott, ein Roboter in der Pflege, der ersetzt dann ja die Menschen, wie entwürdigend ist das denn?" Ich hatte ein Tageszeitungs-Foto gesehen von drei alten Omas, die vergnügt auf einer Bank saßen und diese Robbe auf dem Schoß hatten und dann stand drunter: "Diese Damen sind demenzerkrankt." Da dachte ich: "Für drei Alzheimerpatientinnen sind die ja mal lustig drauf!" Weiter stand da: "Dieses Kuscheltier ist übrigens ein Roboter." Da war ich entsetzt.

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Ich bin dann auf eine Pflegemesse gefahren, habe dort diese Robbe zum ersten Mal in den Arm genommen und gemerkt: So ganz kann ich mich dem Ding nicht entziehen, das ist so ein Wesen zwischen Mensch und Maschine, das macht schon was mit einem. Es war gruselig, aber gleichzeitig auch nicht unangenehm. Ich habe ausprobiert, auf was die Robbe reagierte, habe sie gedrückt und an der Flosse gezogen. Sie hat nicht immer reagiert, und der Heimleiter, der Paro mitgebracht hatte, sagte: "Ja, der hat einen eigenen Willen." Das fand ich dann lustig.

Die therapeutische Wirkungsweise habe ich später in Haus O'land in Bremen begriffen, wo es mich sehr beeindruckt hat, wie das geschulte Personal ganz tiefe berührende Begegnungen mit Hilfe dieses interaktiven Kuscheltieres ermöglicht hat. Eine Frau saß neben ihrem demenzerkrankten Ehemann und sagte: "Er hat seit Monaten nicht mit mir gesprochen." Und plötzlich sprach dieser Mann! Erst zieht er mühsam seine Hand unter der Decke vor, dann kommuniziert er mit Hilfe von Augenbrauenbewegungen mit der Robbe, dann zieht er sie zu sich her und drückt sie an sein Gesicht. Als die therapeutische Begegnung zuende ist, will er sie kaum hergeben - und haucht plötzlich: "Danke, das war gut so." Seine Ehefrau sitzt wie vom Schlag gerührt daneben, der Pflegekraft kommen die Tränen - und uns auch. Es ist die Intensität der gebündelten Reize – Fühlen, Hören, Sehen - durch die diese Interaktion kommt, die manchmal hilft, zu einem Menschen durchzudringen, den man sonst nicht mehr erreichen würde.

Ich sehe den Einsatz der Roboter-Robbe heute unter dem Blickwinkel der Erfahrungswerte so: Wer – oder was – hilft, hat Recht. In den drei Jahren der Arbeit an www.squeezeme.de habe ich eine realistische Einschätzung von pro und contra Assistiver Technologien für Senioren bekommen, insbesondere natürlich von den Chancen und Grenzen Emotionaler Robotik. Solange das ein Wohlfühlkuscheltier ist, das begleitet eingesetzt wird, in vorbereiteten und ausgeleiteten therapeutischen Momenten, bin ich damit völlig einverstanden. In dem Moment aber, wo jemand mit dem Kuscheltier abgestellt wird, weil zu wenig Pflegekräfte da sind, ist es nicht mehr okay. Und schon gar nicht mehr okay ist, wenn weitere, nicht erkennbare Funktionen mit diesem Körperkontakt verknüpft würden, wie beispielsweise das Messen von Körpertemperatur und Puls über die Sensoren des elektronischen Kuscheltieres, da wäre für mich der ethische Grat überschritten.

Ich finde, Sie klingen sehr nah dran und Sie erinnern sich sehr genau an die Szenen. Beschäftigen Sie sich gerne mit Themen wir Demenz, Alter und Tod? Es gäbe ja für Journalisten auch schönere Themen…

Wagner: Das sind manchmal harte Tage - auch jetzt aktuell mit dem Drehprojekt zum "Leben mit dem Tod" für den ARD-Themenschwerpunkt: "Trauern heißt Lieben: Der Verstorbenen-Fotograf Martin Kreuels und seine Kinder". Aber man geht da ja nicht alleine durch. Zu unserem Team gehörte ein einfühlsamer Kameramann und eine mitdenkende und mitfühlende Tonfrau. Die Filme wären nicht möglich gewesen ohne diese Teamarbeit, ohne dass man sich gegenseitig ermuntert, wenn es einem gerade besonders schwerfällt, weil ein Mann oder eine Frau im Pflegeheim einen vielleicht an den eigenen Papa oder die eigene Mutter erinnert, das ging uns wechselweise mal so.

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Ich habe aus jedem dieser Filmprojekte unendlich viel mitgenommen. Ich habe die Berührungsängste vor Menschen mit Demenz verloren, das finde ich einen großen persönlichen Gewinn. Und ich hab während der Dreharbeiten für den Totenfotografie-Film ganz viel von meiner Angst vor dem Tod verloren - und viel gelernt von drei sehr munteren und lebendigen Kindern, die ihre Mutter an Krebs verloren haben. Ich bin immer wieder am Staunen. Von den Pflegekräften und Angehörigen im Pflegeheim für Demenzkranke habe ich viel gelernt - und umgekehrt haben wir ihnen gespiegelt, was sie täglich leisten und bewältigen.

Wenn Sie noch mal einen Angehörigen zu versorgen hätten - Ihre Eltern sind ja schon verstorben - der an Demenz erkrankt wäre: Was würden Sie für diesen Menschen als allererstes tun?

Wagner: Dafür sorgen, dass wir eine Wohnung mit Garten haben, eine gute Nachbarschaft mit einer entspannten Wohnstraße. In Bremen wohnte ich anfangs in einer Straße, wo man von der Nachbarin mal einen Teller Suppe gebracht bekommt, wenn man mit Grippe flach liegt - auch wenn du erst seit zwei Wochen dort wohnst und keiner dich kennt. Dort singt der allmonatlich tagende Straßenstammtisch einer Nachbarin, die 80 wird, ein Ständchen. Eine gute, fürsorgliche Wohnumgebung - das wäre das erste.

Würden Sie sich also zutrauen, die Betreuung selber zu übernehmen?

Wagner: Ja, ich würde mir das heute zutrauen. Und ich schließe auch nicht aus, dass ich für andere ältere Menschen in meiner Umgebung so eine Verantwortung irgendwann mal mit übernehme. Teil eines weiterreichenden Demenzprojektes, das ich in den nächsten Jahren in Bremen realisieren möchte, wäre, darauf aufmerksam zu machen (und das auch visuell im Netz sichtbar zu machen): Wer bekommt wo und wie mit, wenn jemand verwirrt im Bremer Viertel unterwegs ist? Wie kann da lokales Fürsorgenetz gestrickt, gefestigt und sichtbar gemacht werden? Als Bremer Crossmedia-Produzentin fände ich das eine schöne Aufgabe.

Und persönlich betrachtet: In der direkten Begegnung mit desorientierten Menschen gibt es ja auch so viel Spaß und Lustiges und auch direktes Dankeschön - ob das eine spontane Umarmung, ein ziemlich feuchter Kuss oder einfach nur ein seliges Lächeln ist. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen - und keine Rittertätigkeit. Es ist einfach das Leben, es gehört dazu.