Das Büro von Gene Sharp zu finden ist gar nicht so einfach. Kein Namenschild weist in dem Latino- und Arbeiterviertel im östlichen Boston auf seine "Albert Einstein Institution" hin. Die grüne Haustür eines einfachen Backsteinhauses wird von Sharps freundlicher Assistentin Dschamila Raqib geöffnet. Das Büro des Mannes, den die Medien den "Paten der gewaltfreien Revolution", den "Amerikaner hinter der Arabellion" oder auch den "Machiavelli der Gewaltlosigkeit" nennen, besteht aus zwei angestaubten Räumen mit Büchern bis unter die Decke. Der 84-Jährige Gene Sharp trägt ein graues Hemd und eine braune Cordhose. Wenn er spricht, verschluckt er immer wieder Silben und wischt sich die Mundkanten. Er kann nur noch langsam und schwer gebückt gehen. Geistig ist er aber – das verraten auch seine Augen – voll präsent.
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"Masslos übertrieben" nennt Gene Sharp die Lobeshymnen, die ihm und seinem Werk seit ein paar Jahren entgegengebracht werden. Das sagt er nicht aus Bescheidenheit, sondern mit überzeugender Sachlichkeit. Er sei beispielsweise nie in Ägypten gewesen und habe sich über die Ereignisse am Tahrir-Platz ausschliesslich über CNN informiert. In Kairo habe es zwar ein Mini-Büro von Aktivisten für Gewaltfreiheit gegeben, das ein paar seiner Schriften auf Arabisch vertrieben hat. Es habe auch ein paar Treffen mit ägyptischen Demokratieaktivisten gegeben - "aber das war alles".
Tatsächlich grossen Einfluss habe sein Werk im baltischen Osteuropa ausgeübt, sagt Gene Sharp: "Wir trafen uns mit Menschen aus der Regierung und berieten sie bei ihrem Austritt aus der Sowjetunion". Das sei damals "unglaublich gewesen". Er meint Lettlands Austritt während der Anwesenheit der UdSSR-Armee und des KGB im Land. Die Abtrennung forderte ein Dutzend Menschenleben. "Vergleiche das mal mit Tschetschenien", sagt Sharp entrüstet. Zum Beleg kramt er ein dickes Buch mit dem Titel "Regaining Independence – Non-Violent Resistance in Latvia 1945-1991" hervor. Meist werde die Geschichte des gewaltfreien Widerstands verzerrt oder totgeschwiegen – nicht so im Fall der baltischen Staaten, meint er. Ein Kapitel stammt von ihm.
198 Methoden für friedlichen Widerstand
In seinem zwischen in den 70 und 80er Jahren erschienenen Dreibänder "The Politics of Nonviolent Action" hat Sharp den Leitfaden für gewaltfreie Aktion schlechthin geschrieben. Er listet darin 198 Methoden des gewaltfreien Widerstands auf. Zahlreiche waren in den letzten Jahren bei Revolten und Umstürzen zu beobachten.
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Methode 18, das Zeigen von Fahnen und symbolische Farben, war während der "grünen Revolution" gegen die iranischen Herrscher im Jahr 2008, populär. Methode 21, das Übergeben von symbolischen Objekten, kam 2004 in der Ukraine zum Tragen, als Frauen und Senioren Soldaten Blumen überreichten. Methode 167 wurde im Februar 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz gegen das Mubarak-Regime geübt: Hunderttausende liessen sich zum "pray-in" auf Gebetsteppichen nieder.
Keine der 198 Methoden ist von Gewalt geprägt oder zerstört etwas. Dazu gehören "sick-ins" (Krankschreibungen), die Weigerung, die offizielle Währung zu benutzen oder auch die Enttarnung von Polizeispitzeln. Auf Nachfrage zählt Sharp auf, welche Elemente ziviler Ungehorsam umfasst: "Mahnwachen, Flugblätter, Demonstration, Streik, Boykott, Sitzstreik, Verweigerung, Sabotage, Meuterei, Hungerstreik, alternative Wirtschaftsinstitutionen und eine Parallelregierung".
Auf der Suche nach einer besseren Welt
Eine demokratische Revolution ist laut Sharp nur gewaltfrei, mit grosser Disziplin und unter Beteiligung von grossen Menschenmassen machbar. Wenn sich beispielsweise Hunderttausende mit beissendem Spott öffentlich über die herrschende Schicht lustig machen und dadurch deren Schwächen offenlegen, kann dies Massen mobilisieren. Als die Hausfrauen in Serbien ohrenbetäubend auf Kochtöpfe hauten, waren die Verlautbarungen des verlogenen staatlichen Radios nicht mehr zu hören. Und wenn Klimawandel-Demonstranten als Eisbären verkleidet Cocktailparties von Ölmagnaten aufmischen, dann trägt auch diese Protestform das Markenzeichen von Gene Sharp.
Sein erstes Buch über Mahatma Gandhi verfasste Sharp im Alter von 25 Jahren – als er neun Monate wegen Kriegsdienstverweigerung in Haft absitzen musste. Der US-Amerikaner begann 1965 als Forscher an der Harvard-Universität und wurde 1972 Politikprofessor an der Universität von Massachusetts. Er ist Akademiker, der seinen universitären Elfenbeinturm immer wieder verlassen hat auf der Suche nach einer besseren Welt. Wozu er gerade forscht und schreibt? Seine Antwort ist entwaffnend: "Über gewaltfreien Widerstand in Afrika".