Professor Khorchide, Gibt es im Islam die Seelsorge wie wir es aus dem Christentum kennen?
Mouhanad Khorchide: Nicht in dem Sinne, wie es sie in christlichen Gemeinden gibt, also nicht als ein nach einem theoretischen Konzept aufgebautes und institutionalisiertes Angebot. So kennen wir es im Islam nicht! Es gibt aber etwas Ähnliches in der Praxis; denn Hilfsbedürftige, Kranke und Sterbende bekommen natürlich auch Beistand - traditionell aber eben nicht von einem professionellen Seelsorger.
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Sondern?
Khorchide: In islamischen Ländern übernehmen diese Aufgabe meistens Familienangehörige oder nahe Verwandte. Ein krankes Kind bekommt Beistand beispielsweise von Großeltern oder Eltern; den Alten wiederum stehen Töchter oder Söhne, Verwandte oder aber auch Menschen aus der Nachbarschaft zur Seite.
Wie wird ein frommer Muslim von Familienangehörigen in den Tod begleitet?
Khorchide: Sie sind an seiner Seite, kümmern sich um ihn, erinnern ihn an seine bevorstehende Begegnung mit dem barmherzigen Gott. Schenken ihm Liebe und Mut, aber auch Trost, so dass dieser Mensch sich nicht allein fühlt. Er kann auch vor dem Tod das loswerden, was er auf dem Herzen hat. Sie kümmern sich also sowohl um sein physisches als auch geistiges Wohl. Und mit dem Sterbenden zusammen wird die Schahada, das Glaubensbekenntnis, gesprochen. Manchmal wird auch ein Imam gerufen, der dem Sterbenden das Glaubensbekenntnis abnimmt. Dass ein islamischer Geistlicher die Schahada vorsagt, ist aber kein Muss. Diese Aufgabe übernimmt etwa der älteste Sohn beim Vater oder die Tochter bei der Mutter.
"Sie haben die christliche Seelsorge kennengelernt und übernehmen Elemente"
Es gibt inzwischen in Deutschland auch muslimische Seelsorger...
Khorchide: Ja! Das hat mit den Erfahrungen der Muslime hierzulande zu tun. Sie haben die christliche Seelsorge kennengelernt und übernehmen Elemente aus dieser schönen Tradition. An die Stelle der Familie tritt eine "professionelle Person". Inzwischen gibt es an einigen Orten Initiativen, sie arbeiten Curricula aus und bieten Lehrgänge an. Bislang wird es an den Universitäten nicht angeboten, aber dort, wo islamische Theologie gelehrt wird, gibt es Überlegungen, die Masterstudiengänge um Seminare zur Gemeindepädagogik auszuweiten.
Seminare mit welchen Inhalten?
Khorchide: Mit einem theoretischen Schwerpunkt zur theologischen Begründung der Seelsorge im Islam und einem praxisorientierten Schwerpunkt zur geistigen Unterstützung von Kranken, Sterbenden und Gefangenen sowie deren Angehörigen. Weil das ein neues Feld ist, lässt es sich an den christlichen Erfahrungen orientieren und von der christlichen Praxis lernen. Wichtig ist, dass am Anfang die theoretische Begründung für die Seelsorge im Islam entwickelt wird. Ein erster Anhaltspunkt wäre, dass die Würde des Menschen als ein absoluter Wert betont wird und dass es gilt, diese zu erhalten.
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So gesehen ist es auch ein Recht des Betroffenen auf Seelsorge. Neben der theoretischen Begründung bedarf es, wie gesagt, auch der praktischen Erfahrung. Also genau danach zu fragen, auf welche Besonderheiten geachtet werden muss. Die Herausforderung an die islamische Seelsorge hierzulande ist mit der Frage verbunden, wer diese professionellen Seelsorger bezahlen soll. Im christlichen Kontext ist das anders; da gibt es hauptberufliche Seelsorger, die von den Gemeinden angestellt sind. Bei den Muslimen gibt es nur Ehrenamtliche, denn die islamischen Verbände und einzelne Moschee-Vereine haben nicht die finanziellen Kapazitäten für hauptberufliche Anstellungen.
Wie lässt sich denn überprüfen, wer als Seelsorger geeignet ist? Denn das ist ja eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, zumal "Machtverhältnisse" zwischen dem Hilfsbedürftigen und dem Seelsorger ungleich sind.
Khorchide: Gerade deswegen müssen auch wir die Seelsorge institutionalisieren und Standards dafür definieren. Der Seelsorger sollte sich in den kulturellen Codes auskennen. Was gar nicht so einfach ist, denn hier leben Muslime aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Eine andere Frage ist: Wer steht den Seelsorgern zu Seite? Seelsorge kann auch eine Belastung für den Seelsorger selbst sein. Diese Menschen setzen sich Schicksalen aus und müssen das irgendwie auch verarbeiten. Für Ehrenamtliche, die einem Beruf nachgehen und sich dieser Aufgabe in der Freizeit widmen, ist das eine zusätzliche Belastung.
"Die Seelsorge steht ja nicht im Widerspruch zum Islam"
Wie bewerten sie das Phänomen, dass hierzulande auch Muslime beginnen, Seelsorge zu institutionalisieren?
Khorchide: Der Prophet Mohammed sagt, dass die Weisheit ein Allgemeingut ist und der Muslim sie sich aneignen sollte, egal wo er sie findet. Das bedeutet, wenn wir hier etwas wahrnehmen, was wir aus dem Islam nicht kennen und es übernehmen, dann ist das eine Bereicherung für unsere Religion. Die Seelsorge steht ja nicht im Widerspruch zum Islam, im Gegenteil, das ist eine sehr schöne Geste. In der Tat ist das auch ein Zeichen dafür, dass der Islam in Deutschland angekommen ist. Das bedeutet auch, dass Deutschland bei den Muslimen angekommen ist und dass sie keine Berührungsängste mit dem Christentum haben... Dass nicht gesagt wird, oh nein, das ist christlich, das geht uns nichts an.
Der Koran selbst hat keine Berührungsängste mit dem Christentum und anderen Religionen, er enthält Erzählungen und Überlieferung aus der Bibel. Unser Prophet Mohammed hatte auch keine Berührungsängste, von anderen Religionen und Kulturen zu lernen. Nicht immer hatten Muslime Berührungsängste, wie wir sie heute beobachten. Im Mittelalter haben die Muslime keine Berührungsängste gehabt - etwa vor der griechischen Philosophie, sie haben sie sogar in die islamische Theologie integriert.
Warum gibt es bei Muslimen diese Berührungsängste?
Khorchide: Ich denke, dass ist ein Zeichen von Unsicherheit. Viele Muslime wissen nicht viel über ihre Religion, wir beschäftigen uns zu wenig mit dem Islam, bleiben nur auf der Oberfläche. Deshalb stehen wir nicht auf festem Boden. Wenn man sich dessen sicher ist, was man hat, dann hat man auch keine Angst vor Begegnungen mit anderen. Muslime müssen raus aus der Defensive und aus diesem Rechtfertigungseck und sich mehr einbringen in diese Gesellschaft. Und die Seelsorge ist auf jeden Fall ein Schritt dahin.