Einen exemplarischeren Fall für ein klassisches Dilemma hätte man sich auch nicht ausdenken können: Als im Herbst 2002 der elfjährige Bankierssohn Jakob von Metzler entführt wird und der Kidnapper Magnus Gäfgen sich weigert, den Aufenthaltsort des Jungen preiszugeben, lässt ihm der Vizepräsident der Frankfurter Polizei "unmittelbaren Zwang" androhen. Es geht Wolfgang Daschner nicht um die Aufklärung des Falls, sondern einzig und allein darum, das Leben des Kindes zu retten. Die veröffentlichte Meinung ist gespalten, viele Menschen sind auf Seiten des Polizisten, die Rechtsprechung jedoch nicht: Daschner wird wegen schwerer Nötigung angeklagt und später auch verurteilt.
Autor Jochen Bitzer hat die Vorgänge zu einem Fernsehfilm verdichtet, der die Ereignisse aus möglichst neutraler Position schildert. Buch und Regie (Stephan Wagner) verzichten konsequent darauf, die Ereignisse zuzuspitzen. Trotzdem ist der Film kein Doku-Drama. Bis auf eine Ausnahme gibt es weder dokumentarische Einschübe noch Interviews mit den beteiligten Personen. Wüsste man nicht, dass die Entführung und der Prozess gegen Daschner authentisch sind, könnte es sich auch um einen normalen TV-Krimi handeln. Dennoch fühlten sich die Produzenten ausdrücklich der Authentizität verpflichtet. Bitzer hat mit Daschner sowie mit Familie von Metzler (Hanns Zischler und Jenny Schily verkörpern die Eltern) lange Gespräche geführt. Sein Drehbuch kann daher beanspruchen, auch emotional wahrhaftig zu sein; Wagner spricht in diesem Zusammenhang von der "inneren Wahrheit".
Hat ein Täter Anspruch auf jene Rechte, die er seinem Opfer verweigert hat?
Natürlich ist die Gewissensfrage des Polizisten der Dreh- und Angelpunkt des Films, doch zunächst steht der Wettlauf gegen die Zeit im Zentrum. Die Ermittler gehen davon aus, dass Jakob noch lebt und irgendwo eingesperrt ist. Sie versuchen daher alles Menschenmögliche, um Gäfgen (Johannes Allmayer) dazu zu bringen, den Aufenthaltsort preiszugeben, doch der Jurastudent führt sie ein ums andere Mal an der Nase herum. Als nur noch wenige Stunden bleiben, gibt Daschner den Befehl, Gäfgen Schmerzen anzudrohen. Die entsprechende Szene haben Bitzer und Wagner allerdings ausgespart. Außer Gäfgen und dem zuständigen Beamten (gespielt von Uwe Bohm) weiß niemand, was in diesem Moment wirklich vorgefallen ist. Deshalb steht beim Prozess gegen Daschner Aussage gegen Aussage: hier die sachliche Schilderung des Polizisten, dort die wilde Geschichte des Täters.
Dem Sender wie auch den teamWorx-Produzenten Benjamin Benedict und Nico Hofmann war wichtig, dass sich die Zuschauer eine eigene Meinung bilden, nicht nur zum Hergang des Gesprächs, sondern auch zu der grundsätzlichen Frage, ob Menschenwürde teilbar ist oder nicht: Hat ein Täter Anspruch auf jene Rechte, die er seinem Opfer verweigert hat? Doch dieses Dilemma ist rein moralischer Natur, für die deutsche Rechtsprechung existiert es nicht: Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus soll die Unantastbarkeit der Grundrechte auch und gerade in Extremsituationen gewahrt bleiben. Bei allem Diktum zur Neutralität legt der Film dennoch die Position Daschners nahe. Robert Atzorn verkörpert den Beamten als kontrollierten Menschen, so dass ihn eine Aura der Unnahbarkeit umgibt; daran ändern auch die wenigen Eheszenen nichts. Doch auf die Gewissensfrage hat Daschner eine klare Antwort, sie stellt sich ihm gar nicht erst, weil es sich aus seiner Sicht um einen "übergesetzlichen Notstand" handelt: Das Wohl des Jungen steht an erster Stelle, es geht also darum, eine Gefahr abzuwehren. Die juristische Seite der Entscheidung wird erst im Rahmen des Prozesses erörtert, wo sie aus Zuschauersicht zwangsläufig nur noch akademischer Natur ist.
Trotzdem gelingt es Wagner, die Spannung auch im letzten Drittel, als sich der Film vom Thriller zum Gerichtsdrama wandelt, unverändert hochzuhalten; der nahtlose Übergang von einem Genre zum anderen ist ihm auch schon in "Lösegeld" ausgezeichnet gelungen.