Die Idee ist nicht neu: Nach dem Tod eines geliebten Menschen erfährt man, dass der Partner ein Doppelleben geführt hat; prompt beschleicht einen das Gefühl, man habe die ganze Zeit mit einem Fremden verbracht. Auch Lehrerin Martha macht so eine Erfahrung: Gatte Paul, angehender Mediziner, hat jahrelang brav jeden Morgen das Haus verlassen. Als sie dem Doktorvater mitteilen will, dass Paul nicht mehr lebt, kennt der Professor ihren Mann überhaupt nicht. Schockiert erfährt sie, dass Paul seit Jahren nicht mehr immatrikuliert ist.
Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn
Jan Schomburg (Buch und Regie) erzählt Marthas Geschichte in seinem ersten Langfilm zunächst konsequent aus ihrer Perspektive: wie sie mit Paul (Felix Knopp) die Promotion feiert, wie sie sich in der Schule verabschiedet, weil er eine Stelle in Marseille antreten wird, wie sie ihn zum Aufbruch drängt, weil er sich gar nicht losreißen kann. Und wie sie reagiert, als ihr zwei Polizistinnen die Todesnachricht überbringen: Paul hat sich in Frankreich mit Hilfe der Auspuffgase seines Wagens das Leben genommen. Martha will das nicht glauben, und spätestens jetzt zeigt sich, wie unglaublich gut sich Sandra Hüller diese Rolle zu eigen gemacht hat: Genau so, kann man sich vorstellen, würde man selbst reagieren, mit dieser Mischung aus Ungläubigkeit und Zorn. Wie groß auch immer Schomburgs Anteil an Hüllers Leistung war: Sie ist bemerkenswert.
Die Natürlichkeit der vor einigen Jahren für "Requiem" vielfach ausgezeichneten Hauptdarstellerin, deren Arbeit so gar nicht nach Schauspielerei aussieht, hat auch zur Folge, dass man Marthas weiteres Verhalten akzeptiert: Praktisch übergangslos beginnt sie eine Beziehung mit dem Geschichtsdozenten Alexander (Georg Friedrich), ohne ihm von dem Schicksalsschlag zu berichten.
Der Historiker soll nahtlos Pauls Stelle einnehmen, sieht ihm aber gar nicht ähnlich. Dass dies nicht zum großen Manko des Films wird, ist vor allem Hüllers Talent, aber auch Schomburgs Drehbuch zu verdanken. Er verdeutlicht von vornherein, dass Martha eine ganz eigenwillige Art zu trauern hat: "Menschen sterben eben." Außerdem wechselt Schomburg in der Mitte des Films radikal die Perspektive: Nun wird die Handlung aus Sicht Alexanders erzählt, was der Geschichte einen ganz eigenen Reiz verleiht.