Wer in diesen Tagen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Stratford im Osten Londons reist, wird bei der Ankunft im Bahnhof mitgerissen von den Menschenfluten, die sich im Drei-Minuten-Takt über den Bahnsteig ergießen, zähflüssig wie Magma die Treppe hinauf wälzen und, oben angekommen, nach links in Richtung Olympiagelände fließen.
Ordner in lilafarbenen Windjacken, mit Megaphonen ausgestattet, thronen auf Tennis-Schiedsrichterstühlen über den Köpfen der Ankommenden und dirigieren den Strom, vorbei an der glitzernden Fassade des neu errichteten Westfield Shopping Centre, dem selbsternannten "Tor zu Olympia" mit 300 Läden von Hugo Boss bis Prada, und dann weiter zu den Sicherheitsschleusen, die jeder Besucher des Olympic Parks passieren muss.
Das Westfield Centre ist eine der größten Shopping Malls in Europa. Foto: Annette Schweizer
Trotz des Andrangs sehen die meisten Menschen fröhlich aus. Schließlich gehören sie zu den Glücklichen, die eine Karte für eine Sportveranstaltung bei den Olympischen Spielen ergattern konnten. Viele von ihnen haben ihre Gesichter in den Farben ihrer jeweiligen Herkunftsländer bemalt oder sich Flaggen um die Schultern gehängt. Nun blicken sie erwartungsfroh den Stunden im Stadion entgegen.
Gegen den Strom schwimmen
Die Ankommenden, die am oberen Ende der Treppe des Bahnhofs jedoch nicht in Richtung Stadion gespült werden, sondern nach rechts abbiegen möchten, in den Stadtteil Stratford auf der anderen Seite der Gleise, brauchen einiges an Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen. Viele sind es nicht, die dieser Tage gegen den Strom schwimmen. Die, die es tun, gelangen schon nach wenigen Metern in eine andere Welt.
Zwar führt auch der Weg nach Stratford durch ein Einkaufszentrum. Doch das Stratford Centre kann nicht verhehlen, dass es schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Die Billigläden in der Passage aus den Siebziger Jahren zielen auf eine andere Kundschaft als der Glitzerpalast von gegenüber - der Bezirk Newham, zu dem Stratford gehört, ist eine der ärmsten und benachteiligsten Gegenden Großbritanniens. Einst war die Gegend ein Arbeiterbezirk, mit Werften und Docks auf dem Fluss Lea und einer Produktionsstätte der Great Eastern Railway - fast 40.000 Lokomotiven und Waggons wurden hier im 19. und 20. Jahrhundert hergestellt.
Olympia? Ein paar Straßenabsperrung und Wimpel
Doch seit dem Niedergang der Schwerindustrie sind die sozialen Probleme rasant angestiegen: Die Arbeitslosigkeit liegt über dem Durchschnitt, ebenso die Kriminalitätsrate. Das Viertel hat den höchsten Anteil an Immigranten, die jüngste Bevölkerung Großbritanniens und gilt als der ärmste und am meisten benachteiligste Bezirk des Landes.
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In Stratford ist von Olympia nicht viel zu merken. Lediglich ein paar Straßenabsperrungen und einige Wimpel deuten darauf hin, dass in der Stadt etwas anders ist als sonst. Die Gesichter wirken müde, die Menschen tragen keine Nationalfarben, sondern verwaschene T-Shirts, Punkfrisuren, Saris, Turbane. Auf dem Broadway, wie die Straße, die am Bahnhof vorbei führt, heißt, eilen Anwohner mit Einkaufstüten nach Hause. Von Menschenmassen keine Spur.
Abgeschirmt vom Sport-Trubel
Naveed, der hier einen Waffel-Stand betreibt, bedauert das: "Es ist alles sehr enttäuschend", sagt er. "Ich habe mich auf die Olympischen Spiele gefreut, endlich mal was los hier. Und ich habe einiges an Geld investiert, um diesen Stand zu mieten, weil ich gedacht habe, dass eine Menge Leute kommen werden. Aber es ist eher weniger los als normalerweise. Die Geschäfte laufen schlecht, die Olympia-Besucher bleiben alle auf der anderen Seite, kaum jemand findet den Weg hier her. Du kannst fragen, wen Du willst, keiner hier profitiert von den Spielen."
Enttäuscht ist Naveed auch darüber, dass er keine der vor quasi seiner Haustür stattfindenden Sportveranstaltungen besuchen kann: "Für uns Anwohner gab es keine Extra-Tickets, noch nicht mal für den Besuch des Geländes. Und die Karten, die jetzt noch zu haben sind, sind viel zu teuer. Das kann sich hier niemand leisten."
Auch Ismail, der seit 20 Jahren den Best Kebab Shop auf dem Stratforder Broadway betreibt, ist sauer: "Olympia? Rubbish!", entfährt es ihm. Er deutet auf die vierspurige Straße, die an seinem Imbiss vorbeiführt: "Schau raus, nichts los da draußen, keine Passanten, keine Autos. Die Straßen sind gesperrt, überall Parkverbot. Nicht mal meine Stammkunden kommen. Viele Anwohner sind wegen dem ganzen Rummel weggefahren, oder sie fasten wegen Ramadan. Und von da drüben verirrt sich nur selten jemand hier herüber, warum auch, es ist ja alles dort, essen, trinken, einkaufen, die machen das alles dort."
Stratford gilt als einer der ärmsten Bezirke in ganz Großbritannien. Foto: Annette Schweizer
Nur einmal, vor zwei Wochen, als die Olympische Flamme durch Stratford getragen wurde, seien viele Leute auf der Straße gewesen, sei so etwas wie Begeisterung aufgekommen. "Wenn wenigstens eines der Straßen-Events wie der Marathon oder ein Radrennen hier entlang führen würde, dann hätten wir Bewohner auch etwas von Olympia. Aber so..." Ismail schüttelt den Kopf. Es kursiert das Gerücht, dass der Marathon ursprünglich durch Stratford führen sollte, diese Pläne aber geändert wurden, weil das Viertel nicht telegen genug ist als Kulisse für die Fernsehübertragungen in alle Welt.
Entspannt, aber einsam
Einen Vorteil haben die Olympischen Spiele Naveeds Meinung nach aber für die Bewohner von Stratford gebracht: "Seit wegen Olympia so viel Polizei und Security unterwegs ist, ist es sicherer hier. Normalerweise traut sich nach 20 Uhr kaum noch einer aus dem Haus. Jetzt sind alle etwas entspannter. Aber rau ist es hier immer noch."
Drüben im Olympic Park sind derweil die meisten Veranstaltungen zu Ende gegangen. Der Menschenstrom fließt nun in umgekehrter Richtung, wabert aus dem Olympiagelände heraus, vorbei am Eingangsbereich des neuen Einkaufszentrums, die Treppe hinab auf den Bahnsteig der Haltestelle Stratford Station. Menschen aus aller Herren Länder drängen in die alle drei Minuten einfahrenden Underground-Züge. Mit glücklichen Gesichtern erzählen sie von einem aufregenden Tag, von Siegen, Niederlagen, spannenden Stunden und ergreifenden Momenten.
Das Stratford auf der anderen Seite der Gleise haben die wenigsten von ihnen gesehen.