Sie sind als Seelsorger für die deutschen Athleten in London. Wie leben die Sportler unterschiedlichen Glaubens ihre Religion bei der Olympiade aus?
Thomas Weber: Im Olympischen Dorf in London wurde extra ein "Interfaith Centre", also ein interreligiöses Zentrum, eingerichtet. Im zweiten Stockwerk des Hauses hat jede der fünf Weltreligionen Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus einen speziell für ihre Gemeinschaft gestalteten geschützten Gottesdienstraum. Dort können sich die Sportler unterschiedlichen Glaubens, wenn sie wollen, auch zurückziehen. Im interreligiösen Zentrum arbeiten 19 christliche Helfer aus verschiedenen Nationen. Viele Gottesdienste werden am Morgen und am Abend meist in englischer Sprache gefeiert.
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Ein Raum grenzt an den anderen: Direkt neben dem unseren befindet sich der muslimische Andachtsraum. Wegen des Fastenmonats Ramadan ist der Andrang dort besonders groß. Vor der Tür sammeln sich die ausgezogenen Schuhe der männlichen Besucher. Muslimische Frauen haben ein eigenes Gebetszimmer. Es folgen die Räumlichkeiten für Hindus, Buddhisten und schließlich die für die Angehörigen des Judentums. Auf den ersten Blick ist das alles ein großes Nebeneinander. Mit der Zeit kommen manche aber auch miteinander ins Gespräch, vorausgesetzt die Menschen überwinden ihre Sprachbarriere.
"Sportler haben einen Tunnelblick, um den Druck besser bewältigen zu können"
Und wie ist die Nachfrage: Nehmen die Athleten das Angebot an?
Weber: In den ersten Tagen geht es immer sehr hektisch zu. Als Seelsorger habe ich mittlerweile vier Olympische Spiele erlebt und die Erfahrung gemacht, dass die Sportler vor ihrem Einsatz sehr stark auf ihre Wettkämpfe fixiert sind. Anfangs lastet ein unglaublicher Druck auf alle Athleten, die dann oftmals einen Tunnelblick aufsetzen, um diesen Druck besser bewältigen zu können. Die ganze Welt blickt auf die Mannschaften und schaut, wer holt wie viele Medaillen. Mit der Zeit aber, nach den ersten Wettkämpfen und nach einigen Tagen im Olympischen Dorf, weitet sich auch der Blick der Sportler: Sie besuchen sich und gehen zusammen zu Veranstaltungen.
Ein Schütze etwa hat mir erzählt, dass er bereits in den Anfangstagen seinen Wettbewerb hinter sich gebracht hat und nun viel Zeit bis zur Abschlussfeier der Olympischen Spiele hat, um das Gelände zu erkunden. Am Anfang ist der Zulauf im interreligiösen Zentrum noch sehr zurückhaltend. Die Nachfrage steigt mit der Zeit. Interessant ist, wer auch die Gottesdienste neben den Sportlern besucht. Erst vor kurzem habe ich bei einem englischsprachigen Gottesdienst den Mannschaftsarzt aus Sierra Leone, Westafrika, getroffen. Auch viele Angehörige nehmen das Angebot an.
"Die Gemeinde im Olympischen Dorf ist eine Gemeinde auf Zeit"
Wie verträgt sich der Glaube der Sportler mit dem olympischen Geist?
Weber: Sport ist eine Berufung, Glaube ist eine Berufung. Für mich als Seelsorger ist der christliche Glaube auch das Fundament meines Lebens. Die Olympioniken hingegen beschäftigen sich nun mal sehr mit ihrem Sport. Die Sportler sind in einem jungen Alter zwischen 18 bis 35 Jahren. Man muss jetzt auch mal ganz deutlich sagen: Menschen in diesem Alter füllen auch nicht scharenweise meine Kirche in Gevelsberg im Ruhrgebiet. Darüber hinaus gibt es aber auch Ältere im Deutschen Team oder die vielen Betreuer, Ärzte und Physiotherapeuten, die allesamt rückblickender auf ihr Leben schauen und auch die Gottesdienste besuchen. Ich sage immer: Die Gemeinde hier im Olympischen Dorf ist eine Gemeinde auf Zeit. Die Menschen haben ihre Sorgen, Probleme und ihre Freuden.
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Nehmen die Sportereignisse Rücksicht auf die Gebetszeiten der Athleten? Muslime beten beispielsweise fünfmal am Tag.
Weber: Eine Rücksichtsnahme auf bestimmte Gebetszeiten kann ich mir nicht vorstellen. Jedes Wettkampfprogramm unterliegt einem bestimmten Ablauf. Bei Judo, beim Ringen oder etwa Fechten geht es morgens mit der Vorrunde los, nachmittags stehen die Zwischenrunden an und abends ist schließlich das Finale. Keiner kommt auf die Idee zu sagen, dass sonntags mal nichts stattfinden sollte. Eher das Gegenteil ist der Fall: Während der feierlichen Eröffnungsfeier wurde beispielsweise eine Film-Szene aus "Chariots of Fire" mit Mr. Bean eingespielt. Sie zeigt einen Olympioniken, der sonntags nicht antritt, weil er sich sagt: "Sonntags feiere ich Gottesdienst, da laufe ich nicht um die Goldmedaille". Das sind aber längst vergangene Zeiten. Jeder Tag ist von morgens bis Abends mit Wettkämpfen und allem was dazu gehört überfüllt.
Wird der Glaube mancher Athleten während des Wettkampfes sichtbar?
Weber: Man denkt an die symbolische Geste der gefalteten, gebeteten Hände, die sich zum Himmel recken, oder dem sich bekreuzigenden katholischen Sportler vor oder nach einem Wettkampf. Bei uns Evangelischen wäre es ehrlicherweise selbst Zuhause schwierig einzuschätzen, wer überhaupt ein evangelischer Christ ist, wer seinen Glauben lebt. Bei den Olympischen Spielen ist es streng verboten, etwas zu benutzen oder zu zeigen, was auf eine politische Einstellung oder auf einen christlichen Glauben hinweisen könnte.
Dass ein Sportler nach dem Sieg einer Goldmedaille sich vor Freude sein T-Shirt vom Körper reist und darunter "Jesus loves me" lesbar wäre, ist streng verboten. So beklagen auch die Ansprechpartner des interreligiösen Zentrums, dass man sie nicht bereits an Ihrem Äußeren von anderen Helfern, etwa den vielen Menschen, die an der Kasse sitzen oder Parkplätze zuweisen, unterscheiden und damit besser erkennen könne. Alle Helfer tragen die gleiche Standard-Uniform. Das Internationale Olympische Komitee regelt, dass die Sportereignisse nicht als Plattform für politische Ansichten oder Glaubensbekenntnisse genutzt wird.
Ist es wichtig für die deutschen Athleten zu wissen, dass sie sich an Sie als Seelsorger wenden können, der nicht nach Bestzeiten fragt?
Weber: Mit hat mal einer aus der deutschen Mannschaft erzählt, dass er es gut findet, dass Pfarrer, die ein offenes Ohr haben, die Sportler begleiten. Mit uns könne man ganz normal reden, ohne befürchten zu müssen, dass alles Gesprochene am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen sei. Für mich ist das als Gemeindepfarrer in Deutschland nun nichts Außergewöhnliches zuzuhören. Wohl aber habe ich den Eindruck, dass eine Olympiamannschaft unter einen derartig großen Druck steht, dass es wirklich gut für die Sportler ist, einfach mal mit jemandem ins Gespräch über die normalen Dinge des Lebens zu kommen. Die Sportler sind das ganze Jahr mit ihrer Mannschaft unterwegs. Sie haben feste Betreuer, Trainer und Partner oder Freunde, die sie auch hier in London begleiten. Da ist keiner dabei, bei dem hier die großen Probleme des Lebens aufbrechen und der dann sein ganzes Leben ausgerechnet während der Olympischen Spiele in Frage stellt.
"Der Mensch lernt mehr aus Niederlagen, weniger aus Siegen, für sein Leben"
Gehen glaubende Olympioniken mit ihren Niederlagen oder Siegen anders um als andere?
Weber: Unser Leben besteht aus schönen Zeiten und aus schweren Zeiten. Der christliche Glauben hilft uns bei Siegen und Niederlagen. Wie auch ein Mensch, der mit Religion und Glauben nichts zu tun hat, nach einer Niederlage sagt, dass es im Leben weitergeht, verkünden auch viele Sportler nach einer Niederlage, dass es natürlich weitergeht. Manche von ihnen stehen vor ihrem Studium oder vor dem Eintritt in das Berufsleben. Interessant ist, darüber mit ehemaligen Profi-Sportlern ins Gespräch zu kommen. Sie berichten: Wer erfolgreich sei, dem werde auf die Schulter geklopft, der sei ein Held.
Erst wer im Leben Niederlagen einsteckt, merkt, welche guten Freunde tatsächlich an seiner Seite stehen. Aus solch einer Misere wieder herauszukommen ist ein Prozess, der den Charakter und die Persönlichkeit eines Menschen reifen lässt. Als Pfarrer finde ich das sehr interessant. Vom Sport lässt sich lernen, wie man nach einer Niederlage wieder festen Boden unter die Füße und eine neue Perspektive gewinnt. Sport lässt Menschen erfahren, was sie stark machen kann. Generell lernt der Mensch mehr aus Niederlagen, weniger aus Siegen, für sein Leben.
Sind Gläubige die besseren Sportler?
Weber: Das glaube ich nicht. Ich kann da nicht mitreden, weil ich kein Hochleistungssportler gewesen bin. Dafür begegne ich vielen Menschen im Alltag, Zuhause und auch hier in London. Ich kann mir vorstellen, dass ein gläubiger Mensch an einem Wettkampftag seine Hände faltet und Gott bittet, ihm Gelassenheit und Ruhe zu schenken.
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Ich glaube nicht, dass er darum betet, Erster zu werden und das sich alle anderen während des Wettkampfes verletzten sollen. Vielmehr bittet er darum, dass er seine besten Leistungen abrufen und einen Top-Wettkampf abliefern kann. Der Glaube hilft Menschen eine bestimmte Gelassenheit und Ruhe zu finden. Christen erinnern sich an die Worte Jesus: "Denn welchen Nutzen hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder nähme Schaden an seiner Seele." Das ist eine Perspektive, die oft dem gegenübersteht, was man am Tag tatsächlich hört oder liest, wenn ständig die Rede von ewigem Ruhm ist.
Bei Olympia geht es oft um "Glory forever". Wenn ich als Theologe in diesem Rahmen das Wort "ewig" höre, schmunzele ich. Viele meiner Konfirmanden in Deutschland fragen mich, wen ich denn Bekanntes bei den Olympischen Spielen getroffen hätte. Wenn ich dann von Sportlern erzähle, die vor vier Jahren eine Goldmedaille gewonnen haben, schütteln sie nur den Kopf mit den Worten: "Den kennen wir nicht." Glaube gibt uns Gelassenheit und Ruhe unser Leben bewältigen zu können und bei Siegen fröhlich und dankbar zu sein und trotz Niederlagen eine Perspektive zu sehen, wie es weitergehen soll. Auch im Hochleistungssport kann der Glaube Menschen helfen, ihr Bestes zu geben.