"Ich war nur etwa zehn Minuten lang so richtig traurig." Das sagt Claudia Rath, wenn sie sich an den Moment erinnert, in dem ihr Traum von Olympia 2012 geplatzt ist. Nur zehn Minuten? "Vielleicht auch länger. Jedenfalls war ich hin- und hergerissen – zwischen der Enttäuschung über die verpasste Chance und der Freude für meine 'Konkurrentin', mit der ich mich sehr gut verstehe."
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Der entscheidende Moment kam am 15. Juni beim Leichtathletik-Meeting in Ratingen. Claudia Rath hatte sich bereits drei Wochen zuvor in Götzis für die Olympischen Spiele qualifiziert. Mit 6189 Punkten war sie auf Platz drei der deutschen Siebenkämpferinnen – und die besten drei dürfen nach London fahren.
In Ratingen fand der zweite Qualifikationswettkampf statt. Doch der Deutsche Leichtathletikverband hatte entschieden: Wer in Ratingen antritt, darf nicht mit zur EM nach Helsinki. Weil Rath in jedem Fall an einem internationalen Wettkampf teilnehmen wollte und sich nicht imstande sah, ihre Leistung von Götzis zu überbieten, blieb sie in Ratingen auf der Tribüne – und bangte um ihr Ticket nach Olympia.
Zwiespalt auf der Zuschauertribüne
"Mir war klar, dass jemand meine Punktzahl schlagen und mich auf Platz vier drängen kann. Aber trotzdem habe ich die ganze Zeit gehofft, dass es nicht so kommt." Doch dann passierte es, ausgerechnet beim Weitsprung, Raths Lieblingsdisziplin: Julia Mächtig läuft, springt ab, fliegt durch die Luft – und landet erst nach 6,49 Metern im Sand. Persönliche Bestleistung. "Da war mir klar, dass der Traum von Olympia geplatzt ist", erzählt Rath später, "sie hätte nach diesem Supersprung unglaublich schlecht werfen und sehr langsam laufen müssen, um meine Punktzahl nicht zu knacken."
"Ich mache Leichtathletik, seitdem ich laufen kann." Claudia Rath bei der Leichtathletik-EM 2010. Foto: PR
Raths Freundin springt im ersten Moment aus ihrem Sitz und jubelt für Julia Mächtig, doch dann dreht sie sich zu Rath, schaut sie traurig an und spricht ihr Beileid aus. "Das war so ein komischer Moment, ich war genauso zwiegespalten wie sie. Noch merkwürdiger war aber, als Julia später zu mir kam und sich entschuldigte. Das muss man sich mal vorstellen", erzählt Rath, während eine Physiotherapeutin ihren Rücken knetet.
Bis vor Kurzem war Claudia Rath fast täglich bei der Physiotherapie im Olympiastützpunkt Hessen in der Nähe der Frankfurter Commerzbank-Arena. Schließlich muss sie bis zuletzt fit bleiben: Sollte sich eine der drei Siebenkämpferinnen verletzen, springt Rath für sie ein. "Es ist schon bizarr, ich traue mich zum Beispiel gar nicht, Jenny Oeser zu fragen, wie es ihr mit den Problemen an der Achillessehne geht. Ich will nicht, dass sie es in den falschen Hals kriegt", erzählt Rath. Dabei verstehen sich die beiden gut, die deutschen Mehrkämpfer beschreibt Rath als große Familie. Schließlich verbringen sie bei Wettkämpfen zwei volle Tage miteinander und sitzen abends im Hotel beieinander – das schweißt zusammen.
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Aus diesem Grund drückt Rath den deutschen Siebenkämpferinnen auch die Daumen. "Wenn die drei schon hinfahren, dann sollen sie gefälligst auch viele Punkte holen“, erzählt sie und lacht. Statt sich während der Wettkampftage im Bett zu verkriechen oder Urlaub in einer Ferienwohnung ohne Fernseher zu machen – was eine verständliche Reaktion wäre – lädt sie viele Freunde zu sich nach Hause ein und veranstaltet eine Olympia-Party. Gemeinsam schauen Rath und ihre Freunde dann die Wettkämpfe der Siebenkämpferinnen an und schlürfen dabei Ingwerlimo und verschiedene Teesorten. Eine richtige britische Tea-Party eben. Vor und nach den Wettkämpfen schickt Rath den Mehrkämpferinnen aufmunternde SMS.
Das nächste Ziel vor Augen
Wie schafft sie es, diese Niederlage so locker wegzustecken? "Meine Familie und Freunde geben mir in solchen Situationen Halt. Sie sind einfach stolz auf das, was ich erreicht habe", erzählt Rath. "Aber es ist nicht leicht: Ich werde immer wieder an die verpasste Chance erinnert, zum Beispiel als ich auf Facebook die Einkleidung des Olympiateams gesehen habe oder als die E-Mail mit organisatorischen Dingen für die Ersatzleute kam. Das war jedes Mal ein kleiner Stich ins Herz." Doch Rath sieht es von der positiven Seite. Im Januar hat sie nämlich noch nicht einmal zu hoffen gewagt, dass sie die Qualifikation für Olympia schafft. Wegen einer Verletzung am Sitzbein konnte die Studentin nicht mit voller Power trainieren. "Mein Ziel war die Europameisterschaft in Helsinki. Das habe ich geschafft und die EM sogar mit persönlicher Bestleistung abgelegt." Sie hatte also nicht damit gerechnet, sich für Olympia zu qualifizieren, umso größer war dann die Freude darüber: "Es war ein unglaublich schönes Gefühl, als ich die Olympianorm geknackt hatte. Das ist schließlich der Traum eines jeden Sportlers. In vier Jahren ist die nächste Olympiade, da möchte ich unbedingt dabei sein."
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Mit diesen Gedanken tröstet sich Rath, wenn sie doch einmal die Olympia-Wehmut packt. Als Sportlerin hat sie schon früh gelernt, Niederlagen zu verkraften. "Ich komme aus einer Sportlerfamilie. Seitdem ich laufen kann, mache ich Leichtathletik. Da muss man so etwas immer wieder wegstecken." Ein richtiges Rezept dafür gibt es jedoch nicht, sagt sie. "Man muss sich einfach vor Augen führen, was man alles erreicht hat. Man muss positiv denken. Und auf das nächste Ziel hinarbeiten." Dieses Ziel heißt für Rath nun wieder Olympische Spiele – nur eben in Rio.