Tony lebt schon seit Jahrzehnten im Londoner Stadtteil Stratford, gleich in der Nähe des Olympiaparks. Wenn sich der 45-Jährige mit seinen Freunden im Pub trifft, reden sie nicht zuletzt über die Veränderungen in ihrem Stadtteil. "Ich habe mich auf die Olympischen Spiele gefreut", sagt er. "Aber man muss sehen, ob das wirklich langfristig etwas bringt." Kaum ein Wort wird im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen, die am 27. Juli starten, derzeit öfter benutzt als "Legacy" - zu deutsch: Vermächtnis.
Die Spiele sollen, so das Ziel der Organisatoren, nicht nur ein mehrwöchiges Spektakel werden, sondern die Lebensbedingungen vieler Briten nachhaltig verbessern. Mit diesem Konzept hatte sich London um die Spiele beworben. Jetzt sind die Erwartungen groß, was nach den Spielen von diesem Ziel bleibt.
Der Stadtteil Stratford, in dem sich der Olympische Park befindet, ist kaum wiederzuerkennen. Nachdem die meisten Baufahrzeuge abgerückt sind, zieren nagelneue Wohnblöcke, neue Straßen und Gehwege die Hauptstraße von Stratford. Wo vorher noch renovierungsbedürftige Häuser standen, sind jetzt Glasfassaden zu sehen. Direkt am Parkeingang befindet sich, die Außenanlagen mitgerechnet, das größte städtische Einkaufszentrum Europas. "Meine Frau geht dort gerne einkaufen, vor allem Schuhe", lacht Tony. "Aber viele Geschäfte sind für uns einfach zu teuer." Auch Bahnhöfe wurden neu gebaut und saniert.
Viele Arbeitslose, keine Wohnungen
Das alles lässt Besucher glauben, es handele sich bei Stratford um einen nagelneuen, wohlhabenden Stadtteil. Doch der Eindruck täuscht: Stratford gehört zur Gemeinde von Newham, einer der ärmsten Gemeinden Londons. Stratfords Geschichte als Arbeiterstadtteil geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Und auch heute noch sind die finanziellen Verhältnisse der Haushalte dort eher bescheiden: Jeder fünfte Bürger Newhams lebt in einem Haushalt mit einem Einkommen, das 30 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Die Arbeitslosenrate ist eine der höchsten in London.
Und in Newham herrscht Wohnungsnot. 32.000 Familien stehen derzeit auf der Warteliste für eine Sozialwohnung, wie die Zeitung "The Times" im April berichtete. Mit den Olympischen Spielen werden zwar viele neue Wohnungen gebaut, aber die Mietpreise steigen kontinuierlich an, seit die Banken immer weniger Kredite zum Kauf von Eigenheimen zur Verfügung stellen. Viele Briten sind daher auf der Suche nach Mietwohnungen anstatt nach Kaufobjekten.
Allein im vergangenen Jahr sind die Mietpreise in London nach Berechnungen von Immobilienanalysten um fast zehn Prozent gestiegen. Und um den Olympiapark herum stiegen die Mietpreise überdurchschnittlich. Einen Mietspiegel, wie in vielen deutschen Städten üblich, gibt es in London nicht. Hauseigentümer können fast jeden erdenklichen Mietpreis verlangen. Das führt dazu, dass selbst Gartenhäuschen als Wohnraum vermietet werden.
Ikea will einen Ausweg bieten
Derzeit plant der Ikea-Konzern ein Wohnprojekt gleich am Ortseingang von Stratford. 1.200 weitere Wohnungen sollen nicht weit vom Olympiagelände entstehen. "Strand East" heißt das Projekt. Ein hölzerner Turm, der das Wahrzeichen des Viertels werden soll, steht schon. Ansonsten weisen nur großflächige Plakate auf das Projekt hin, noch wird hier nicht gebaut.
Fast 150 Kommentare sind bereits auf der Planungswebseite der Gemeinde zu dem Projekt abgegeben worden. Das Besondere an dem Projekt ist, dass der Bauherr familienfreundliche Wohnungen schaffen möchte. Fast die Hälfte der Wohnungen soll vier Zimmer und mehr haben, eine Seltenheit in London. Außerdem wird Wert auf Umweltschutz gelegt. Das Viertel wird autofrei geplant.
Tony und seine Freunde sind hin- und hergerissen, ob sie die Olympischen Spiele als Fluch oder Segen empfinden. "Ich mag die neuen Gebäude, aber vieles wird einfach zu teuer für uns." Selbst die Supermärkte um das Olympiagelände herum hätten die Preise erhöht und es gebe Gerüchte, dass die Gemeindesteuer erhöht werden solle. "Das wäre ein schlechtes Vermächtnis", sagt Tony.