Unter den Großstädten des heutigen Polen gilt Breslau – polnisch: Wroc?aw – als die interkulturell aufgeschlossenste Metropole. "Vielleicht ist das deshalb so, weil die Einwohner unserer Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg selbst aus verschiedenen Regionen zusammenkamen und eine multikulturelle Kommune schufen", vermutet Janusz Witt, Generalsekretär der polnischsprachigen lutherischen Gemeinde vor Ort.
1945: Stadt bleibt, Einwohnerschaft wechselt
Breslau gehört zu den heute polnischen Städten, die im Zuge der Westverschiebung Polens 1945 einen nahezu kompletten Bevölkerungsaustausch erlebten. Damals verlor Polen Gebiete im Osten an die Sowjetunion und bekam im Gegenzug unter anderem das bisher deutsche Niederschlesien mit der Hauptstadt Breslau.
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Während viele deutsche Breslauer nach Westen ziehen mussten, fanden unzählige Heimatvertriebene aus Ostpolen hier eine neue Heimat. "Wir Neuankömmlinge waren einander zunächst fremd", erinnert sich der pensionierte Lehrer Witt. "Wir mussten lernen, unsere Unterschiede zu akzeptieren."
Heute, 23 Jahre nach Ende der langen Nachkriegszeit, ist Breslau eine boomende Großstadt mit 633.000 Einwohnern. Seit mit dem deutsch-polnischen Vertrag vom November 1990 die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze bestätigt wurde, fühlen sich die bisherigen Neu-Breslauer definitiv daheim. Und können sich umso entspannter mit der multikulturellen Vergangenheit der Oder-Metropole befassen – als Menschen polnischer, deutscher und tschechischer Sprache sowie katholischen, evangelischen und jüdischen Glaubens Seite an Seite lebten.
Polnische Breslauer erinnern an deutschen Widerstand
In den vergangenen Jahren finden Bücher und Veranstaltungen über die deutsche Vergangenheit der Stadt – auch über die Vertreibungen – ein lebhaftes Echo bei den heutigen polnischen Breslauern. Die kulturellen Hinterlassenschaften der früheren deutschen Bewohner werden gut gepflegt. Wer über den Rynek, den umfangreichen Marktplatz der Stadt, schlendert, in dessen Mitte das Renaissance-Rathaus thront, kann ringsum wunderbar restaurierte Bürgerhäuser bewundern.
Vor der nahe gelegenen Elisabethkirche ist eine neue Gedenkplatte für Dietrich Bonhoeffer eingelassen, der in Breslau seine ersten Lebensjahre verbrachte. Auf der anderen Seite von Markt und Rathaus, in der heute altkatholischen Magdalenenkirche, erinnert eine Wandtafel an Katharina Staritz, eine der ersten Pfarrerinnen des deutschen Protestantismus. Sie half als Breslauer Stadtvikarin in der Nazizeit, jüdische Mitbürger zu retten. Und an verschiedenen Orten in der Stadt wird an den zum Katholizismus konvertierten mystischen Dichter Angelus Silesius erinnert.
Wunderschön restauriert wurde in den letzten Jahren die Synagoge "Zum Weißen Storchen" (Foto: Martin Rothe). Das klassizistische Gebäude im Südwesten der Innenstadt war der jüdischen Gemeinde 1996 wieder zurückgegeben worden – unter anderem mit Unterstützung des katholischen Kardinals und des evangelischen Bischofs der Stadt. Heute ist innen und außen alles saniert und in leuchtendem Weiß-Gelb gestrichen.
Im Inneren finden neben Konzerten vor allem die Gottesdienste der jüdischen Gemeinde von Breslau statt, die mittlerweile wieder auf über 300 Mitglieder angewachsen ist. Über ihre Vergangenheit vor dem Holocaust, als sie viele renommierte Rabbiner, Wissenschaftler und Künstler hervorbrachte, berichtet eine Ausstellung auf der Empore.
Schockiert über Feindschaft gegen religiöse Minderheit
Jerzy Kichler, langjähriger Vorstand der jüdischen Gemeinde in Breslau, gab den Anstoß zu einem Projekt, das inzwischen zum glänzendsten Aushängeschild des neuen multikulturellen Breslau geworden ist: dem "Quartier der vier Denominationen". Als er 1995 einmal am Gotteshaus der polnisch-orthodoxen Kirche vorbei ging, sah er, wie ein junger Mann eine religiöse Ikone an der äußeren Seitenwand der Kirche mit Steinen bewarf.
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Schockiert über diesem Vorfall, schlug der jüdische Gemeindevorstand einem ihm bekannten katholischen Priester vor, gemeinsam etwas für ein besseres Miteinander der Religionen und Konfessionen in Breslau zu tun. Mit Unterstützung des katholischen Kardinals Gulbinowicz, des orthodoxen Erzbischofs Jeremiasz, des lutherischen Bischofs Bogusz und vieler anderer Breslauer entstand in den folgenden Jahren das Quartier der vier Denominationen. "Wir wollten in unserem gemeinsamen Stadtviertel nicht mehr auf Distanz bleiben, sondern mehr über unsere Nachbarn lernen, unsere Gedanken austauschen und einen Dialog beginnen“, erinnert sich Janusz Witt.
Der südwestliche Teil von Breslaus Innenstadt, also rund um die Synagoge, wurde zu einem "Stadtviertel des gegenseitigen Respekts" ausgerufen. Dessen Kernstück ist ein gleichnamiger Pfad, der von der orthodoxen Kirche über die katholische Antonius-Kirche und die Synagoge bis zur lutherischen "Kirche der göttlichen Vorsehung" führt, in deren Nachbarschaft sich die ehemalige Breslauer Residenz der Preußenkönige befindet. Südlich wird das Viertel durch die Wasser des Befestigungsgrabens begrenzt, nördlich durch den belebten König-Kasimir-Boulevard.
Die 2005 ins Leben gerufene Stiftung "Quartier der vier Denominationen" veranstaltet seither jedes Jahr diverse interreligiöse Aktivitäten, darunter die Ökumenische Gebetswoche, gegenseitige Gemeindebesuche, Podiumsdiskussionen der Geistlichen und gemeinsame Konzerte der Kirchenchöre. Und das Projekt "Kinder des einen Gottes", bei dem Kinder der umliegenden Gemeinden und Schüler aus der ganzen Stadt die anderen Konfessionen kennenlernen können – unter anderem durch künstlerische Workshops oder Konzerte in Latein, Kirchenslawisch, Hebräisch, Luther-Deutsch und Polnisch.
Europäische Kulturhauptstadt 2016
Für viele Jugendliche der stark katholisch geprägten Stadt ist es die erste Gelegenheit, eine Synagoge zu sehen – oder ein evangelisches und orthodoxes Gotteshaus. Auch dem Zentrum für Islamische Kultur in Breslau wurden schon Besuche abgestattet. Der Erfolg des Quartiers der Denominationen kann sich sehen lassen und dürfte ein nicht unwichtiges Argument dafür gewesen sein, dass Breslau der Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2016" zugesprochen wurde.
Buchtipp: "Von Krakau bis Danzig", so der Titel, führt den langjährigen Polen-Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung", Thomas Urban, eine spannende Reise durch die deutsch-polnische Geschichte anhand der Großstädte Danzig, Posen, Breslau, Kattowitz, Krakau, Lodz und Warschau. Verlag C. H. Beck, München 2004, 345 Seiten, 14,90 Euro.