Der Camino ab Gelnhausen: Ein Wanderer auf Pilgertour

Michael Heininger
Foto: Corinna Willführ
Michael Heininger beim Pilgern.
Der Camino ab Gelnhausen: Ein Wanderer auf Pilgertour
Einmal auf dem Jakobsweg unterwegs sein, von Frankreich bis ins spanische Santiago de Compostela zur Grabstätte des heiligen Jakobus zu pilgern - ein Ziel, das immer mehr Menschen haben. Michael Heininger ist einer von ihnen. Diesen Monat machte sich der 57-Jährige zum dritten Mal auf den Weg. Von seiner Haustür in der hessischen Kleinstadt Gelnhausen aus - zu Fuß zur rund 2700 Kilometer entfernten Kathedrale von Santiago de Compostela.

Der Alltag von Michael Heininger änderte sich an einem ganz normalen Tag – als ihm die "Welt" zu Füßen lag. Beim Aufräumen in seinem Lokal, das der gelernte Schriftsetzer eine Zeit lang in seiner Heimatstadt betrieb, fand er hinter dem Tresen eine Ausgabe der Tageszeitung "Die Welt" mit einer Reportage über den Jakobsweg. Gewandert war der damals Endvierziger schon immer gern. Im Spessart, in Tirol, in seinem geliebten Irland. Doch der Gedanke, einmal den "Camino" zu gehen, ließ ihn nicht mehr los. Was er von Anfang an wollte: Seine Pilgertour von zu Hause aus starten. Von der hessischen Kleinstadt Gelnhausen im Mainz-Kinzig-Kreis bis ins spanische Santiago de Compostela zum Grab des Heiligen Jakobus zu gehen.

Als Pilgerstock ein Stab aus Haselnuss

"Die Ruhetage nicht mitgerechnet", erinnert sich der heute 57-Jährige, "war ich hundert Tage unterwegs." Wie viele Kilometer er damals im Jahr 2004 hinter sich gebracht hat, hat er nie genau errechnet. "Circa 2700", schätzt er. Vier Jahre später, als er erneut aufbricht, notiert er eine Wegmarke in seinem als Buch unter dem Titel "Heiter – Weiter" erschienenen Erfahrungsbericht: Von der Stiftsbasilika im mainfränkischen Aschaffenburg zum Grab des Heiligen Jakobus sind es 2450 Kilometer.

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Eine Strecke, die manchen Autofahrer abschrecken dürfte und die die meisten Menschen wohl nur per Flugzeug zurücklegen möchten. Doch Michael Heininger will sie zum dritten Mal komplett gehen, nachdem er sie bei seiner zweiten Wanderung 2008 wegen eines Beinbruchs in den Pyrenäen abbrechen musste und erst von dem Unglücksort aus in 2009 fortsetzen konnte. Starttermin in diesem Jahr ist der 3. Juni, ein Sonntag.

Einen Anfängerfehler wird der Führer durch die Barbarossastadt nicht mehr machen: 17 Kilogramm Gepäck mitnehmen. Auf jeden Fall aber ein Zelt. Denn drei Monate in Hotels übernachten (sofern es überhaupt welche an der Strecke gibt), kann und will er sich nicht leisten. Und ein Stab aus Haselnuss muss mit, selbst geschnitzt. Als klassischen Pilger sieht er sich dennoch nicht. Denn seine Gründe, sich auf den Weg zu machen, sind keine, die einer Religion zuzuordnen sind. Für ihn ist die Erfahrung wichtig, Abstand zu gewinnen. Zu erleben, wie sich die Form der Kirchtürme ändert. Die Würste anders schmecken. Wie vermeintlich Wichtiges an Bedeutung verliert.

Das Wichtigste sind gute Schuhe - und Toleranz

"Auf den ersten Kilometern kennen die Menschen noch meine Heimatstadt. Irgendwann aber nicht mehr. Und damit spielt alles, was ich dort bin oder zurücklasse, auch keine Rolle mehr", sagt Michael Heininger und fügt hinzu: "Wo immer ich war, hat es beim Kennenlernen von Jungen und Alten, denen ich begegnet bin, nie eine Rolle gespielt, ob ich oder sie einer Kirche angehörten." Den meisten, so der "Pilger ohne Religion", sei es gemein gewesen, Abstand zu gewinnen, unerwartete Begegnungen zu erleben, andere Perspektiven für das Leben zu entdecken, indem sie erst einmal einen Weg zu sich gefunden haben. Ob sie 30, 50 oder 70 Jahre alt waren.

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Auf seinem Weg hat er vielmehr erfahren, wie wichtig Toleranz ist. Wie es Tradition ist, hatte auch er einen kleinen Stein aus seiner Heimat im Gepäck, um ihn "symbolisch für Sorgen und Sündenlast" am Cruz de Ferro in der Nähe von Foncebadón abzulegen. Entsetzt war Michael Heininger über den vielen Unrat - von der Schuhsohle bis zum Fahrradreifen - der rund um den Steinhaufen verteilt war.

Bei seiner Entrüstung wäre er wohl geblieben, hätte er nicht dort einen Arzt aus den Niederlanden getroffen. Der Mediziner hatte als Andenken an seinen verstorbenen Enkel am Cruz de Ferro Spielzeugmurmeln abgelegt. Die Stimme von Michael Heininger wird brüchig, wenn er sich an den Mann erinnert, der lieber seinen Enkel auf den Schultern getragen hätte als einen Rucksack.

Michael Heininger ist seinen Weg nach Santiago de Compostela stets allein gegangen. "Ich komme mit mir gut klar. Verträgt man sich gut mit sich selbst, hat man einen guten Weggefährten", sagt er. Allen, die zu zweit oder in der Gruppe diese lange Reise zu Fuß unternehmen möchten, gibt er zu bedenken, sich schon vor dem Aufbruch über das Tempo beim Gehen, das Budget oder die Hygienevorstellungen zu verständigen. Denn in den Herbergen auf dem Weg gebe es mitunter "Blanke Matratzen und Kopfkissen mit Bezug – zu den Vorgängern", wie er in dem ihm eigenen ironisch-sarkastischen Ton ein Kapitel seiner Camino-Erfahrungen überschrieben hat. Indes: Über seine Lippen kommt kein Wort der Klage, war die Tour auch noch so strapaziös. Im Gegenteil: In den Augenwinkeln blitzt die Vorfreude auf, bald wieder aufzubrechen.

"Pilger ohne Religion"

Seine Wanderschuhe (ganz wichtig) sind gut eingelaufen. Einen neuen Strohhut will er sich noch besorgen, den Pilgerausweis kann er sich selbst ausstellen. Denn schon seit Jahren ist der 57-Jährige Pilgerbeauftragter der Deutschen St.-Jakobus-Gesellschaft im fränkischen Würzburg. Wöchentlich bekommt er etliche Anfragen von Menschen, die das Dokument benötigen, weil sie sich auf den Jakobsweg begeben wollen, meist allerdings "nur" auf der bekanntesten Etappe ab Le Puy in Frankreich.

Michael Heininger ist ein "Pilger ohne Religion". Aber ein Mensch, der glaubt. Das gibt ihm die Kraft, 2700 Kilometer zu Fuß zu bewältigen: über Schotter und Asphalt, die auf die Weinberge nach Sulzberg folgen, den endlos langen Trippelpfad am Rhone-Rhein-Kanal entlang bis ins französische Muhlhouse, über den von Bäumen beschatteten Platz von Esbarres, an dem er gerne länger geblieben wäre. Blitz und Donner standzuhalten, wie sie ihm im spanischen Pilbo überfielen. Denn der "Reisende auf dem Himmelspfad" ist sich mit Raimond Joos einig, der in seinem Buch "Pilgern auf den Jakobswegen" schrieb: "Pilgern ist letztendlich etwas unerklärlich Wunderbares."

Und das können auch jene erleben, die nicht bis nach Santiago de Compostela laufen können oder wollen. "Der Jakobsweg – von der Fulda an den Main" ist der Titel eines jüngst im Hanauer CoCon-Verlag erschienenen Buches. Auf rund 200 Seiten erläutert der Führer die einzelnen Etappen von der Domstadt zur Mainmetropole, zeigt mit vielen Bildern die Sehenswürdigkeiten längs der Strecke auf, notiert Gedanken zur Meditation. Ob sie nur einen Tag oder viele Wochen auf dem Jakobspfad unterwegs sind, allen Pilgern gilt der Gruß: "Buen camino!"