Deutsche in Polen: Leben im Land des Wandels

Foto: Jens Mattern
Blick auf Warschau mit einem der Wahrzeichen der Stadt, dem Kulturpalast (rechts).
Deutsche in Polen: Leben im Land des Wandels
Im Süden von Warschau, in einem Verbrauchermarkt: ein hochgewachsener Mann Mitte dreißig, seine Tochter im Sitz des Einkaufswagens. In der Schlange vor der Kasse singt er "goht an Schalter, lupft de Huat: 'Oi Billetle, send so guat!'" Die anderen Wartenden schauen sich fragend an. Ab und an muss die Heimat, in diesem Fall die schwäbische, beschworen werden, auch wenn es der Integration entgegen wirkt. Die Fremde ist nicht immer einfach auszuhalten. "Trulla trulla-lala" antwortet die Tochter, beide haben noch fünf Strophen vor sich. Immer mehr Deutsche sind an der Weichsel anzutreffen und nicht jeder singt sein Heimweh so laut hinaus: Polen steht bereits an dritter Stelle der Ausreiseadressen am Rhein.

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Martin Grohmann, Direktor einer Bank mit deutschem Kapital, blickt vom sechsten Stock eines Bürokomplexes auf die Warschauer Altstadt, auf das Meer der Plattenbauten, Kirchtürme und eine Ecke des Nationalstadions, in dem bald die Fußball-EM anrollen wird.

In der Zeit, als er erstmals nach Polen kam, war vieles anderes – die Stadt war deutlich grauer, auf dem damaligen Stadiongelände verkauften russische und asiatische Händler Tand und Verbotenes und der Panoramablick fehlte, da das gläserne Finanzgebäude noch nicht gebaut war.

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Der studierte Betriebswirt hat keine typische Expat-Vita vorzuweisen – er wurde nicht von einer westlichen Bank oder Firma entsandt. Grohmann war näher dran an Polen. Als Dozent der Universität Mannheim unterrichtete er in den 90ern gelegentlich in Lodz Betriebswirtschaftslehre, während er noch letzte Formen des planwirtschaftlichen Modells in der Praxis beobachten konnte. Dort lernte er seine künftige Frau kennen, eine Warschauerin, und beschloss zu bleiben. Das hatte Folgen – die Heirat mit einer Polin führte zu manchem Kontaktabbrüchen im deutschen Bekanntenkreis zu Hause.

Polnisch "improvisierend" lernen

Nun musste er auch direkt mit Polen auf dem Warschauer Arbeitsmarkt konkurrieren, erhielt zwar bald in einer Bank mit österreichischem Kapital eine Stelle, hatte jedoch in vielem umzudenken. So kam er nicht überall mit der deutschen Systematik weiter, zum Beispiel beim Sprachenlernen – es war keine Zeit für lange Sprachkurse, im Umgang mit Ehefrau und Schwiegereltern lernte er die schwierige Sprache "improvisierend" – ein wichtiges Wort in Polen.

Auch in seiner Rolle als Deutscher musste er seinen Weg finden. Warschau war von Oktober 1939 bis Januar 1945 Hitler-Deutschland besetzt, die Nazi-Untaten sind nicht vergessen. Die polnischen Gegenüber sprachen ihn darauf an, weil sie zuerst erfahren wollten, ob er sich der schwierigen gemeinsamen Geschichte bewusst war. "Gerade mit älteren Menschen zu sprechen, die viele Angehörige in NS-Konzentrationslagern verloren hatten, war nicht leicht." Hier habe er auch gelernt, was Vergeben wirklich bedeuten kann. Heute sei das auch viel weniger problematisch. Allerdings würden lautstarke Deutsche in der Gruppe immer noch schief angeschaut.

Wenn polnische Politiker die Geschichte instrumentalisieren, hat Grohmann allerdings damit Schwierigkeiten. Dies gilt vor allem für die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), die seit 2007 nicht mehr an der Regierung ist.

Grohmann gefällt an den Polen ihre Herzlichkeit, die Entwicklung nach vorn, der Arbeitseifer. Auch ist der Konservative mit dem leistungskontrollierenden polnischen Schulsystem einverstanden - seine Tochter besucht ein Gymnasium im Süden Warschaus. Dass heute deutsche Neu-Warschauer schnell eine Auslandsentsendung abbrechen, weil sie es "hier nicht mehr aushalten", dafür hat er wenig Verständnis.

"Man braucht im Leben auch Gottvertrauen"

Foto: Jens Mattern

Simon von Kleist sitzt in einer dunkel gebeizten Warschauer Kneipe bei einem polnischen Bier. An der Decke hängt kopfüber ein schwarz angemaltes Fahrrad, mit einer Finlandia-Vodka-Flasche am Gepäckträger. Fragen drängen sich auf - ist das nun Kunst oder Kitsch? Käme das in Deutschland durch den TÜV? Fliegt uns das Fahrrad oder die Flasche gleich auf den Kopf? "Die deutsche Sicherheit" meint der überzeugte Christ und nippt an seinem Zywiec, " ist eine Scheinsicherheit, man braucht im Leben auch Gottvertrauen". Das ist nun nicht nur so daher gesagt. Am anderen Tag will der Übersetzer für Englisch und Spanisch einen großen Schritt tun: er wird einige Behördengänge erledigen und so sein Dasein als Angestellter einer deutschen Firma in das eines Selbstständigen in Polen umwandeln.

Der große Schritt ist kein unüberlegter - Polen kennt der heute 34-jährige schon etwas länger. Als er damals an der Universität Hildesheim seine künftige Frau Anja kennen lernte, war er erstmal abgeschreckt von der Sperrigkeit der Sprache. Nach einer Übergangszeit machte er sich ans Werk: er lernte die sieben Fälle, die Fülle an Beugungen bei Verben und Nomen und reihte Zischlaute aneinander.

Nach dem Studium langten seine Sprachkenntnisse, um sich 2006 in Warschau  in einer Firma für Küchenprodukte zu bewerben, auch seine Frau fand eine Stelle. Erst wurde er dort als Deutscher seltsam angeschaut, doch konnte er sich als Übersetzer und Projektmanager schnell einarbeiten. Das Unternehmen wuchs und auch das "Rat Race" nahm zu, der Wettbewerb in der Boomstadt Warschau, immer schneller und immer mehr arbeiten zu müssen. Als ein Kind unterwegs war, stand "Sicherheit" auf der gemeinsamen Agenda. Der Norddeutsche fand in Buxtehude einen Übersetzer-Job in einer kleinen Firma.

Die Wahl der Heimat zwischen Flexibilität oder Sicherheit

Die Frage, wo denn ihre gemeinsame Heimat sei, stand jedoch weiterhin im Raum. Je länger er allmorgendlich das Industriegebäude in Buxtehude aus den 70er Jahren mit dem Muff der Unveränderlichkeit betrat, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er hier nicht alt werden wollte, während anderswo das Leben brummte. Nachdem er einen neuen Arbeitsvertrag bei einem süddeutschen Lokalisierungsdienstleister bekommen hatte, nahm er den zweiten Umzug Richtung Warschau in Angriff. Die Übersetzungs-Arbeit kann er auch nach Polen mitnehmen – er muss nur besagten Status als Angestellter aufgeben.

Allerdings argumentierte seine Frau (und ihre gesamte Umgebung) mit dem Thema "Sicherheit" gegen Warschau, außerdem hatte sich ihr Sohn gut im Buxtehuder Kindergarten eingelebt. Und: Das polnische Gesundheitssystem gilt als Dauerpatient, der mit dem Boom nicht Schritt halten kann. Wer hier westlichen Standard begehrt, muss tief in die Tasche greifen. Doch der angehende Warschauer argumentiert mit der Flexibilität der polnischen Mediziner - wenn man mal einen Arzt seines Vertrauens gefunden hat.

Diese Flexibilität, das Improvisieren, das habe ihm an der Weichsel immer gefallen. Um nicht nur am Schreibtisch zu hocken, gibt  Simon von Kleist auch Übersetzungs-Seminare an der Warschauer Universität. Der Bau dort sei ein furchtbarer Kasten aus den 60er Jahren, doch anders als in Buxtehude wäre hier der Esprit der Veränderung spürbar. "In Warschau kann man sich einbringen, gestalten, an dem großen Wandel teil haben." begeistert sich der künftige Unternehmer.

Nun wohnen die von Kleists zentral mit einem Blick auf einen Park, in einer kleinen Wohnung. Ein Jahr lang wollen sie hier auf Probe leben und arbeiten und dann entscheiden, ob die polnische Hauptstadt für länger heimattauglich ist.

Vor der Fußball-EM noch schnell Prüfungen abnehmen

Foto: Jens Mattern

Katrin Ankenbrand hat gerade viel zu tun und eigentlich wenig Zeit für ein Gespräch. Auch um sie herum herrscht hektische Betriebsamkeit: die Altstadt von Breslau wird schon Ende Mai in eine riesige Live-Übertragungstribüne mit reichlich Alkoholausschank umgewandelt. Damit die angereisten Freunde der Fußball-EM auch preiswert unterkommen, schließt das Sommersemester früher ab, so dass die Studentenwohnheime frei werden.

Die DAAD-Lektorin, die vornehmlich Linguistik unterrichtet, muss nun Examensunterlagen durchgehen, Prüfungen abnehmen und hofft, dass der bald einsetzende Lärm der Fans auf dem nahen Marktplatz ihr nicht die Nerven rauben wird. Seit September unterrichtet die Geisteswissenschaftlerin in Breslau an der Universität mit der größten Germanistik außerhalb des deutschen Sprachraums.

Die deutsche Sprachinsel auch mal verlassen

Während diese Fachrichtung in Deutschland den Ruf hat, etwas "wolkig" zu sein, scheinen ihr die Studierenden hier anders veranlagt: "Viele studieren noch Wirtschaft, Recht oder Chinesisch; die meisten arbeiten, sie sind sehr zukunftsorientiert", meint Ankenbrand bewundernd. Das Engagement ihrer Studenten hat jedoch einen Nachteil: Da in der universitären Umgebung alle sehr gut Deutsch sprechen, kann die Linguistin ihre Basis-Polnischkenntnisse kaum in der Praxis anwenden, "leider", sagt sie. Polnisch möchte Ankenbrand unbedingt gelernt haben, wenn sie das Land verlässt - eine DAAD-Lektorenstelle dauert maximal fünf Jahre.

Zum einen hat die Wissenschaftlerin, die kurz vor der Veröffentlichung ihrer Doktorarbeit steht, ein theoretisches Interesse an der schwierigsten der slawischen Sprache. Zum anderen will sie die deutsche Sprachinsel an der Uni auch mal verlassen können, sagt sie, sonst fühle sie sich von unverbindlichen spontanen Kontakten abgeschnitten. Zusammen mit ihrem deutschen Freund, der ebenfalls in Breslau lebt und arbeitet, haben sie eine private Lehrerin genommen. Der Spracherwerb hat auch einen pragmatischen Grund - Polen ist ein Nachbarland mit wichtigen Wirtschaftskontakten. Als Geisteswissenschaftlerin rechnet sie sich so bessere berufliche Chancen aus, sollte es mit einer Universitätslaufbahn nicht klappen.

Polnische Spontanität: Irgendwie klappt es auch - meistens

Interesse an Polen hat die die gebürtige Heidelbergerin schon lange. Ihre Familie kommt teilweise aus Niederschlesien, seit der Wende ergaben sich immer wieder Besuche und Kontakte im östlichen Nachbarland.

Die ehemals deutsche Stadt ist auch heute noch von älteren Deutschen bevölkert, die mit Karten in der Hand alte Stätten ihrer Kindheit aufsuchen. Auch einige ihrer Studenten beschäftigen sich mit dem sogenannten "Heimattourismus". Anfeindungen aufgrund ihrer deutschen Herkunft hat sie in Breslau bislang keine erlebt; überhaupt glaubt sie, dass Polen und Deutsche sich sehr nah sind.

Ein wenig fremd bleibt ihr hingegen der polnische Hang zur recht kurzfristigen Planung und Spontanität. Wenn sie sich nach Terminen und Organisation erkundigt,  hört sie oft: "Machen Sie sich nur keine Sorgen". Und irgendwie klappt es dann auch - meistens.