Sie sind wütend. So wütend, dass sie im Schutze der Anonymität auf Internetforen, Nachrichtenseiten und in E-Mails regelrecht verbal entgleisen. Was erzürnt die Menschen so, die Pfarrer André Carouge jetzt für den geplanten Gottesdienst als Pfaffen beschimpfen, der seine Gemeinde verführt? Sie haben vor allem Angst vor etwas, das sie nicht kennen, denn der Gottesdienst, den sie kritisieren, wurde noch gar nicht gefeiert. Sie treibt offenbar Angst vor dem Unbekannten. Sie ist tief sitzend und seit dem 11. September 2001 ist sie aufgeladen mit zahlreichen Bildern und Emotionen, die das Verhältnis zwischen Muslimen und Christen noch mehr belasten.
Noch mehr, da es ja sowieso schon schwierig ist, als Anhänger einer Religion eine andere zuzulassen. Es fällt vielen schwer, die Toleranz gegenüber der anderen Religion mit dem Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens zusammen zu denken. Wie sollten sie ihr folgen, wenn sie sie nicht für die einzig richtige hielten? Der Geschäftsführer der Konferenz Evangelikaler Publizisten (KEP), Wolfgang Baake, war wohl so ziemlich der erste, der sich empörte und einen Brief an den Pfarrer, den Gemeindevorstand und den Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (BEFG) schrieb.
Besteht Gefahr für Leib, Leben und Seele?
Gleichzeitig veröffentlichte er seinen Brief in Auszügen in der Nachrichtenagentur idea. Wolfgang Baake schreibt in seinem Brief davon, dass es Christen in ihrem Glauben verwirrt, wenn aus dem Koran vorgelesen wird. Es werde ihnen vorgespielt, dass es keine oder nur geringe Unterschiede zwischen den Religionen gäbe. Außerdem schreibt er, dass Muslime glauben könnten, die Christen befänden sich auf halbem Wege zum Islam. Wolfgang Baake gesteht zwar zu, dass die Gemeinde vor Ort vielleicht differenzieren könnte, weil die Freundschaft zwischen der dortigen muslimischen DITIB-Gemeinde und der EFG Kamp-Lintfort stetig gewachsen ist. Was ist aber, fragt er, mit dem Fernsehzuschauer?
Der könnte denken, dass der Koran der Bibel gleichkommen könne. Und Muslime könnten glauben, man wolle sich ihre Religion aneignen. Darauf stehe im Islam, schreibt Baake, das Urteil, in der Hölle zu landen. "Muslime möchten mit Christen Dialoge führen, die ihren Glauben kennen und vertreten, nicht aber mit solchen, die ihn de facto halb aufgeben, wenn (...) sie den Koran in ihren Gemeinden zitieren." Er fordert, man solle die Gottesdienstplanung "dringend verwerfen".
Besteht Gefahr für Leib, Leben und Seele, weil zwei muslimische Bergleute in einem evangelischen Gottesdienst von ihrer Freundschaft zu Christen erzählen? Und weil eine Muslima einen einzigen Vers zum Thema Barmherzigkeit aus dem Koran vorliest? Besteht die Gefahr, dass die Gemeinde in der Kirche und vor dem Fernseher vom Glauben abfällt, weil Menschen muslimischen Glaubens an einem Gottesdienst teilnehmen und ihn im Kleinen mit gestalten?
Bibel- und Koranzitate gegen Andersgläubige
"Wir lesen in unseren Gottesdiensten doch sonst auch nicht ausschließlich aus der Bibel", sagt Pfarrer André Carouge. "Nur weil ein Satz aus dem Koran gelesen wird, muss er doch nicht gleich falsch sein." ###mehr-links### André Carouge hat vorerst darauf verzichtet, die zahlreichen E-Mails, die er in Folge von Baakes Brief bekommen hat, zu beantworten. Die Leute wüssten doch gar nicht, wie der Gottesdienst verlaufen werde, woher bildeten sie sich also ihr schnelles Urteil, fragt Carouge.
Er ist enttäuscht von Wolfgang Baake, den er persönlich bisher nicht kennt. "Ich hätte ihm als Journalisten gewünscht, dass er mich vorher anruft", sagt André Carouge. Das wäre auch ein geschwisterlicher Weg unter Christen gewesen, doch da Baake seine Befürchtungen gleich an die große Glocke gehängt habe, entstehe bei ihm der Eindruck, es solle Stimmung gemacht werden.
Und ja: Es wurde Stimmung gemacht. Deutlich nachzulesen in all den Kommentaren, die jetzt aus Koranversen zitieren, um zu beweisen, wie sehr der Koran gegen Christen wettert: “Tötet die Ungläubigen, wo immer ihr ihnen habhaft werdet” (Sure 9,5). Genauso könnte man allerdings auch genügend Bibelzitate finden, die gegen Andersgläubige wettern (siehe Beispiele für Bibel- und Koranzitate gegen Andersgläubige hier.)
Wissen vertreibt die Angst
Das Stimmung gemacht wurde ist außerdem deutlich nachzulesen in den Kommentaren, die die Bibel zitieren, um die angebliche Sünde zu beweisen, die André Carouge in seinem Gottesdienst begehen wird: "Nehmt euch in Acht vor denen, die in Gottes Namen auftreten und falsche Lehren verbreiten! Sie tarnen sich als sanfte Schafe, aber in Wirklichkeit sind sie reißende Wölfe." (Matthäus 7,16) Die beiden heiligen Schriften, Bibel und Koran, sind dicke Bücher. Wer da einen Satz zu seinen Gunsten sucht, der wird zweifellos einen finden.
Wer sind sie denn, die reißenden Wölfe? Der Pfarrer? Die "verführte" Gemeinde? Vielleicht gar der ganze BEFG, der die Teilnahme der Muslime im Fernseh-Gottesdienst in einer Stellungnahme verteidigt, erklärt und die Gemüter zu beruhigen versucht : "In dem geplanten Gottesdienst (...) wird es keine Religionsvermischung geben", sondern es werde "die nachbarschaftliche Freundschaft zwischen Christen und Muslimen, die in der besonderen Situation unter Tage gewachsen ist und heute in der Gemeinde lebt, dokumentiert."
Eigentlich erinnert eher die Wortwahl der Kritiker an einen reißenden Wolf. In ihrem Anspruch, nur das Lamm Gottes zu schützen, wettern sie gegen die friedfertige Gemeinschaft von Christen und Muslimen, die im gemeinsamen Leben gewachsen ist. "Mit der Muslima, die den Koranvers im Gottesdienst lesen wird, bin ich aufgewachsen", sagt André Carouge. Man kennt sich, man vertraut sich, man ist interessiert am Glauben und Leben des Anderen. "Wenn der andere weiß, was ich glaube, ist auch Verständnis füreinander da." Und Wissen über den anderen vertreibt auch die Angst vor dem Unbekannten.
Sie nennen Gastfreundschaft ihr Eigen
In Kamp-Lintfort gibt es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 einen interreligiösen Theologenkreis. Muslime und Christen treffen sich regelmäßig, um voneinander zu lernen. Irgendwann hatten die Muslime gefragt, ob sie in den christlichen Gottesdienst kommen dürften, erzählt André Carouge. "Natürlich haben wir sie eingeladen." Vor Gottesdienst-Beginn erklärte er den Gästen eine Viertelstunde lang die Liturgie.
Auch die muslimische Gemeinde hat ihre christlichen Freunde schon eingeladen. "Es geht nicht um einen Kuschelkurs mit Muslimen, wie es manche verächtlich nennen", sagt Carouge, "wir wollen in einer guten Gemeinschaft zusammen leben." So sehen es auch die Muslime in der Stadt und der Bürgermeister. Sie sind traurig über die ängstlichen und wütenden Reaktionen. Von ihrem gemeinsamen Weg wird sie das aber hoffentlich nicht abbringen. Und den Gottesdienst am 17. Juni werden sie natürlich besuchen. Im Zeichen der Gastfreundschaft, die sowohl Christen als auch Muslime ihr Eigen nennen.
Und denen, die da Angst vor dem bösen Wolf und dem Verlust ihrer Identität haben, möchte man am liebsten zurufen: "Der Herr ist mein Licht und mein Heil: Vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist die Kraft meines Lebens: Vor wem sollte mir bangen?" (Psalm 27,1)