Die selbst geraubte Zukunft der Schulschwänzer

epd-bild/Steffen Schellhorn
Die selbst geraubte Zukunft der Schulschwänzer
Wenn Schüler systematisch den Unterricht schwänzen, sind Spezialisten gefragt
Wenn Schüler regelmäßig schwänzen oder der Schule ganz den Rücken kehren, haben sie kaum eine Chance auf einen erfolgreichen Bildungslauf. Das Programm "Schulverweigerung - die 2. Chance" hilft und holt Tausende Jugendliche aus dem Abseits. Ob es über 2013 hinaus fortgesetzt wird, ist allerdings offen.
03.06.2012
epd
Dirk Baas

Es passierte fast jeden Morgen auf dem Weg zur Schule. Anja (Name geändert) bekam Bauchkrämpfe und musste sich übergeben. "Es war einfach nur schrecklich", erinnert sich die 14-Jährige aus Bad Homburg an jenes halbe Jahr, in dem sie immer öfter im Unterricht fehlte. Grund ihrer Panikattacken: Mobbing durch Mitschüler. "Anfangs wurde ich nur gehänselt, irgendwann hatte ich keine Freunde mehr." Lehrer und Schule waren überfordert. Anja kam mit psychosomatischen Beschwerden für neun Wochen in eine Frankfurter Klinik.

Doch kaum war das Mädchen zurück in der alten Klasse, flammten die Probleme wieder auf. Anjas Mutter wandte sich schließlich an den Verein "basa", der im Hochtaunuskreis als Träger für das bundesweite Projekt "Schulverweigerung - Die 2. Chance" zuständig ist, und mit acht Schulen kooperiert.

Bislang mangelt es an Daten über Schulschwänzer

Die 2. Chance läuft unter der Regie des Familienministeriums und will Zahl derer senken, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Bundesweit gibt es 191 Standorte. Die Finanzierung endet 2013. Noch ist offen, wie es weitergeht.

Laut Christoph Schwamborn von der Stiftung SPI Berlin, die die 2. Chance koordiniert, wurden in den vergangenen drei Jahren knapp 12.800 Schulschwänzer ab dem Alter von 12 Jahren betreut. 2011 konnten 60 Prozent von ihnen wieder in den Regelschulbetrieb eingegliedert werden.

Geschwänzt wird, seit es Schule gibt. Doch es mangelt an Daten über das ganze Ausmaß des Problems. Schule ist Ländersache. Unterrichtsversäumnisse werden zwar überall im Klassenbuch erfasst, jedoch nirgends zentral zusammengeführt und ausgewertet.

"Wir haben keinen Gesamtüberblick, denn die Schulen müssen diese Angaben nicht systematisch erfassen", sagt Thorsten Bührmann, Sozialforscher am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Paderborn. Nach Schätzungen liegt die Zahl der Jugendlichen, die regelmäßig weiterführenden Schulen fernbleiben, zwischen fünf und zehn Prozent. 2010 lag die Schulabbrecherquote nach EU-Angaben bei 11,9 Prozent (2009: 11,1 Prozent).

"Wir können nicht alle Probleme lösen"

"Bislang haben wir nur wenige Daten, wie viele Schüler aus welchen Gründen fehlen", erklärt auch Professor Romuald Brunner von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Heidelberg. Sie ist beteiligt an einem europaweiten Forschungsprogramm. Untersucht werden nicht nur reine Fehlzeiten, sondern auch deren Hintergründe wie Angst, Depressivität, Sozialverhalten und Suizidgefährdung. Im Oktober 2011 wurde in Heidelberg und im Rhein-Neckar-Kreis ein Programm gestartet, das 1.600 Schüler, ihre Eltern und Lehrer einbezieht. Die Schüler wurden vier Präventionsprogrammen zugeteilt. Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen.

Bührmann erforscht das Phänomen durch die Brille der Schüler: "Ich versuche, deren Lebenssicht zu beleuchten." Er beschreibt das Schwänzen als schleichenden Prozess, beeinflusst von vielen Faktoren. Da sei etwa die Familie, die sich nicht richtig für die Kinder interessiere, es gebe überforderte Lehrer sowie Freunde, die "auch nichts anderes zu tun haben, als blau zu machen und zu trinken". Das mache die Arbeit mit Schulmüden sehr komplex: "Wir können nicht alle Probleme lösen, sondern nur Impulse geben. Ein Standardprogramm, dass alle Probleme löst, gibt es nicht."

Zur Hilfe braucht man gegenseitiges Vertrauen

"Es dauert oft sehr lange, bis die Schulverweigerung überhaupt ans Licht kommt", berichtet Diplom-Pädagogin Lorna Merkel, die auch Anja betreute. Es gebe eine hohe Dunkelziffer. Zunächst sei es wichtig, die Probleme eines Kindes genau einzugrenzen. Dann würden Eltern, Schule und in manchen Fällen auch das Jugendamt eingebunden, etwa bei Konflikten in der Familie: "Wir sind auch Türöffner und gehen mit den Jugendlichen oder den Eltern zu den Ämtern."

"Wir setzen auf eine enge Beziehung zu den Mädchen und Jungen", ergänzt Sozialarbeiter Tugrul Ugur: "Sonst wissen wir nicht wirklich, was die Jugendlichen so treiben." Das gegenseitige Vertrauen zahle sich aus. Vom Start am 1. April 2009 bis zum 30. April dieses Jahres betreuten die beiden 80 Jugendliche - meist mit Erfolg.

Anja hat wieder Spaß am Unterricht: Sie ging eine Klasse zurück, strebt den Realschulabschluss an: "Vielleicht mache ich dann auch noch Abitur." Sie weiß, wem sie die Wende zum Guten zu verdanken hat: "Alleine hätte ich das nie gepackt."