"Lediglich die Fahnen teilnehmender Länder dürfen zum Show-Veranstaltungsort mitgebracht werden" – so lautet Punkt acht der Geschäftsbedingungen auf der Rückseite der Eintrittskarte zum Eurovision Song Contest, der heute Abend ab 21 Uhr live aus Baku in Aserbaidschan übertragen wird. So ein kleinliches Kleingedrucktes gab es bisher noch nicht, auch das hat wohl wieder mit Armenien zu tun. Die Muslime hüben und die Christen drüben verbindet eine lange, gut gepflegte Feindschaft. Nachdem die Armenier zunächst ihre Teilnahme am Song Contest 2012 im Nachbarland signalisiert hatten, sagten sie dann im März kurzfristigst doch noch ab. Ein armenischer Soldat war an der Grenze erschossen worden, angeblich von einem aserbaidschanischen Heckenschützen. Hinterher stellte sich heraus, dass der Schütze ein armenischer Soldat war.
Weil offenbar auch die den Wettbewerb organisierende Europäische Rundfunkunion die vorgeschobene Begründung für diesen mutwilligen Ausstieg nicht schluckte, musste Armenien seine üblichen Teilnahme-Gebühren dennoch voll bezahlen. Darüberhinaus zusätzlich noch eine Strafe in Höhe von 50 Prozent dieser Summe, außerdem müssen die Armenier alle drei Sendungen aus dem Land des ungeliebten Nachbarn 2012 live übertragen.
Eurovision als Friedensstifter
In der englischsprachigen Wikipedia gibt es einen Eintrag, der deutlich macht, dass sich in diesem nervigen Gegeneinander beide Seiten nichts nehmen. Da waren die Veteranen des Grand Prix d’Eurovison de la Chanson doch anders drauf. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs trafen sich 1956 erstmals sieben Länder - inklusive der Bundesrepublik Deutschland - zum gemeinsamen Schlager-Vortrag. Gerade so, als hieße das Leitmotiv: Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder, ehemalige Feinde singen sich heut’ Liebeslieder. Aber zurück nach Baku.
Hier sind es, nachdem 42 Lieder ins Finale wollten, heute Abend noch 26 Lieder, die um den Titel des Europameisters singen: Je zehn aus den beiden Halbfinalen sowie die sechs gesetzten Länder. Das sind neben Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien und Nordirland auch das Land des Vorjahressiegers, also Aserbaidschan. Darüber hinaus haben sich augenfälligerweise insbesondere Lieder vom Anfang und vom Ende der jeweiligen Halbfinals qualifiziert, die Songs in der Mitte blieben allesamt auf der Strecke - was im Fall von Slowenien ein Jammer ist. Am Dienstag und am Donnerstag wurden die übrigen Plätze im Teilnehmerfeld ausgelost, und so ergibt sich die endgültige Starterliste für den ESC-Abend, die keine gedruckte Fernsehzeitung bieten kann.
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Wenn alle gesungen haben, darf wieder eine Viertelstunde lang per Telefon abgestimmt werden, an wen die 12, 10, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2 oder 1 Punkte der 42 teilnehmenden Länder vergeben werden sollen. Wobei das auch in diesem Jahr nur die halbe Rechnung ist. Denn am Freitagabend haben bereits Profi-Jurys aus professionellen Musikschaffenden in den einzelnen Ländern die zweite Durchlaufprobe des Finales angeschaut und daraufhin ihre Wertungen abgegeben. In jedem Land werden die Ergebnisse von Profis und Fernsehzuschauern zusammenaddiert und gemittelt, und daraus ergeben sich dann die vergebenen Punkte.
Ganz viel Multikulturalität im Feld
Wer gewinnt, ist auch in diesem Jahr wieder ganz offen. Für die jubelnden Aserbaidschaner vor Ort kann es nur das eigene Land oder das türkische Brudervolk sein, die Eurovisions-Fans sehen Schweden ganz vorn, für mich dürften die ehemaligen jugoslawischen Länder, Rumänien oder die beiden großen Eurovisions-Nationen Italien und Spanien das Rennen machen.
Aber wie wichtig ist so ein Sieg überhaupt? Die zahllosen Begegnungen zwischen Europäern aus allen Ecken des Kontinents, die guten Gefühle und der Spaß am gemeinsamen Feiern machen den Song Contest aus wie sonst keine andere Veranstaltung. Mehr denn je spiegeln die Sänger multikulturelle Hintergründe der Länder, die sie vertreten: Der Norweger wurde im Iran geboren, für die Türkei singt ein Jude, die Rumänen haben Kubaner in ihrer Band, die italienische Sängerin ist in Irland aufgewachsen, die dänische Vertreterin hat einen schwäbischen Vater und eine Schweizer Mutter. Und das ist nur eine Auswahl.
Wenn etwas der Einmaligkeit der Eurovision zusetzt, dann ist es eine scheinbare Multikulturalität an anderer Stelle: Die Monokulturalität, dass fast alle Englisch singen und sich die Lieder immer stärker ähneln, auch weil viele Melodien in diesem Jahr erneut einen skandinavischen Migrations-Hintergrund haben.
Homosexualität in Baku kein großes Thema, im Iran schon
Doch schon vor dem Finale hat die Eurovision in Baku offenbar jemand anderen gestört. Gleich in der ersten Woche wurden mehrere Seiten zum Thema ESC im Netz lahmgelegt. Auf ihnen erschien stattdessen die Zeichnung eines Kämpfers, der mit Schild und Lanze eine aserbaidschanische Fahne verteidigt. Dazu der aserbaidschanische Text, der solche Botschaften an den Mann bringen wollte: "Es gibt keinen Platz für unmoralische Schwule in Aserbaidschan. Verlasst unser Land."
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Möglicherweise kam das aus dem Iran, denn dort leben als Minderheit zwischen 11 und 30 Millionen Azeri. Und damit in jedem Fall mehr als in Aserbaidschan selbst, das nur rund 9 Millionen Einwohner hat. Auch wenn bisher niemand etwas Genaues über den Urheber der Internat-Attacken weiß, ist jedoch sicher, dass es in zwei iranischen Städten im Vorfeld der Eurovision Demonstrationen gegen eine angebliche Schwulen-Parade in Baku gab. Die war nie geplant. Der Hinweis spielt aber darauf an, dass im Hardcore-Bereich der Eurovisions-Liebhaber folgende Faustregel gilt: Nicht alle Schwule sind Grand-Prix-Fans, aber fast alle Grand-Prix-Fans sind schwul. Wie gesagt: Faustregel. Wie gesagt: Hardcore-Bereich.
Ansonsten war Homosexualität in Baku - anders als noch vor drei Jahren in Moskau - kaum ein Thema, auch wenn in Aserbaidschan viele Männer strikt heterosexuell Arm in Arm durch die Straßen laufen und sich küssend begrüßen. Aber vielleicht war es ja auch genau aus diesem Grund kein Thema. Oder es war die Schere im Kopf. Oder der vorauseilende Gehorsam in einem Land, das eben nicht in Europa liegt. Ganz uneuropäisch sitzt am Finalabend die aserbaidschanische Herrscherfamilie Alijew in ihrer eigenen Loge im Publikum. Ihr Schwiegersohn wird als Pausenfüller singen - anschaulicher kann sich die autokratische Situation des Landes definitiv nicht selbst erklären.
Gute Organisation trotz Verspätungen
So oder so sind die Sicherheits-Bestimmungen in den vergangenen Tagen spürbar schärfer geworden. Nicht so sehr in der Stadt selbst, mit Eurovisions-Fahnen an Plätzen und Autos und dem diesjährigen Eurovisions-Leitmotiv "Light Your Fire" – Entzünde dein Feuer – an unzähligen Bussen und Londoner Taxis. Ganz deutlich jedoch in der "Baku Crystal Hall", der eigens für diesen Anlass in nur acht Monaten direkt am Kaspischen Meer aus dem Boden gestampften Halle mit einem Fassungsvermögen von 16.000 Menschen für jede der drei Sendungen. Sogar die Halbfinals waren ausverkauft, deshalb ein Lob an die Organisatoren, das sah bisher deutlich anders aus.
Aber es muss auch Kritik sein. Weshalb in einer neugebauten Halle eines Hamburger Architektenbüros ein Drittel der um die Bühne herum gruppierten Fans hinter dem singenden Interpreten sitzen, wieso die Fans trotz deutschem Ticket-Verkaufs-Organisator erst sechs Stunden vor der ersten Veranstaltung ihre Eintrittskarten bekamen, warum trotz deutscher Produktionsfirma auch in diesem Jahr wieder jeder Probentag mit Verspätung begann, die sich dann über den Tag kontinuierlich steigerte - all diese Fragen müssen ungeklärt bleiben.
Völkerverständigung mit Musik
Geklärt ist indes die Sache mit der Sicherheit. Nur mit meinem Reisepass - dessen Nummer auf meiner personalisierten Eintrittskarte steht - komme ich heute Abend in die Halle. Ich werde versuchen, die italienische Regenbogenfahne mit dem Aufdruck "Pace", also Frieden, mit in die Halle zu nehmen. Obwohl ich die bestimmt nicht als Flagge eines teilnehmenden Landes durchbekomme.
Aber dazu will ich den Organisatoren in Baku eine kleine Geschichte erzählen: Die erste, mir damals völlig unbekannte aserbaidschanische Fahne habe sich bei den Eurovisions-Veranstaltungen 2005 in Kiev gesehen. Drei Jahre vor dem ersten Eurovision-Beitrag aus der Kaukasus-Republik erzählte mir ein junger Mann, der in Berlin lebte, von seinem Land, das ich bis dahin noch überhaupt nicht auf meinem Globus hatte. Wann immer ich danach diesen Landesnamen aus einer anderen Welt hörte, lauschte ich ein wenig aufmerksamer. Ich habe mich gefreut, als 2008 der erste aserbaidschanische Beitrag beim Grand Prix gesungen wurde, genauso wie ich mit 2006 über die Premieren-Teilnahme Armeniens gefreut hatte.
Die Eurovisions-Geschichte zeigt ganz gut, dass einem kaum was Besseres passieren kann als Nachbarn im Wettbewerb zu haben, die einem Punkte geben können. Und zwar friedlich und gemeinsam. Denn das ist das Wesen des Eurovision Song Contest – egal, ob in Düsseldorf oder Baku.