Pro & Contra: TikTok-Verbot

Collage der Autoren Marco Ohmer und Leonie Mihm.
Daniela Hillbricht/Christian Spangenberg/Canva
Marco Ohmer und Leonie Mihm diskutieren über ein TikTok-Verbot.
Was steht auf dem Spiel?
Pro & Contra: TikTok-Verbot
Desinformation und Datensammeln gegen freie Entfaltung und einen Online-Raum für Jugendliche: Sollte TikTok bei uns verboten werden? evangelisch.de-Redakteurin Leonie Mihm und indeon-Praktikant Marko Ohmer beziehen Stellung.

Pro TikTok-Verbot: Problem unserer Demokratie

Marco Ohmer ist Praktikant bei indeon.

Der Oberste Gerichtshof in den USA hat ein Verbot der Videoplattform TikTok durchgesetzt – jedoch nur wenige Stunden. Der aktuelle Kompromiss gilt nur auf Zeit. Der Mutterkonzern ByteDance muss nun entscheiden, ob Daten offengelegt und Anteile der Plattform verkauft werden. Was also langfristig mit der App passiert und was das für gesellschaftliche und politische Auswirkungen haben wird, ist noch unklar. Jetzt wird ein Verbot wird auch in Europa diskutiert. Vor einer Woche hat der er estnische Außenminister die Forderung erneuert.

Dass in Sachen Medienkompetenz deutsche Schulen weit hinter die Anforderungen des Alltags junger Menschen zurückgefallen sind, sah man spätestens während Corona, als die Generation Overheadprojektor plötzlich TEAMS benutzten musste. Daher überrascht es nicht, dass Schüler:innen im Netz auf sich allein gestellt sind und "die AfD auf TikTok bei den Erstwählerinnen und Erstwählern doppelt so erfolgreich, wie alle anderen Parteien zusammen" – was eine Studie der Uni Potsdam ergab. Die hat Mediennutzung vor den Landtagswahlen 2024 in Ostdeutschland untersucht. In Thüringen wurde der gesichert rechtsextreme AfD-Landesverband unter Jugendlichen mit 38 Prozent sogar stärkste Kraft – was sicher auch der dominierenden Präsenz der AfD bei TikTok geschuldet ist. Der Sturm an Fake News und plumper Hetze bildet eine Filterblase, in der sich junge Menschen verlieren. Wenn jeden Tag der Untergang prophezeit wird und jede News den Abgrund abzeichnet radikalisiert sich eine Generation: zur Wahl von Parteien, die von Menschen geprägt werden, die man gerichtsfest Faschisten nennen darf.

Aber nicht nur inländische Antidemokrat:innen vergiften den politischen Diskurs mit den durchschnittlich 42 Sekunden langen Videos. Von der radikalislamischen Hamas bis Putins Unrechtsregime haben autoritäre Akteure erkannt, dass aus Meinung Wähler:innenstimmen und aus Fake News Fakten werden. Ungefilterte Bilder aus Kriegsgebieten, Falschmeldungen und extremistische Botschaften rutschen so genauso über die Displays, wie Jugendliche, die zu Rosé und Bruno Mars tanzen. Das zeigt Wirkung: So sagt es eine repräsentative Umfrage des Institut Allensbach im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Dabei kam heraus, dass gerade Nutzer:innen von TikTok weniger misstrauisch sind als die Konsument:innen anderer Medien. So glauben "mehr als ein Drittel aller TikTok-Nutzer (…) Russland habe ein größeres Interesse an Frieden in der Ukraine als der Westen". Dabei ist es die russische Seite, die das Gemetzel morgen beenden könnte. Auch im Kreml weiß man: Niemand ist immun gegen Propaganda, weswegen das stärkste Pferd im Stall der Desinformation in die Wurst muss.

Dabei ist das, was TikToks Algorithmus ausspielt, nicht das einzige Problem. Viel grundlegender ist es die App selbst, die zum trojanischen Pferd werden könnte: Vom Standort über Kontakte bis zum Browserverlauf bedient sich TikTok (großzügig) an den Daten seiner Nutzer:innnen. Dass diese Daten, zumindest von amerikanischen Nutzer:innen nach China fließen, zeigt eine Recherche von Buzzfeed News. Zwar verschlingen Facebook, X (bei mir immer noch Twitter) und Instagram auch gierig Daten und bieten zunehmend Rechtspopulisten eine widerspruchsfreie Plattform, doch die USA sind (noch) ein funktionierender Rechtsstaat und die Chance, dass in vier Jahren eine demokratische Regierung den Kurs der Social Media Giganten zurrechtrückt, ist definitiv größer als die Hoffnung auf eine liberale Demokratie in China.

Der unangenehme Mix aus Verschwörungserzählungen, Hetze und Propaganda, gepaart mit der undurchsichtigen Struktur der App und ihrer Entwickler:innen macht TikTok zu einem viralen Problem unserer Demokratie und gefährdet Nutzer:innen und alle die diesen zusammenleben müssen.

CONTRA TikTok-Verbot: Bevormundung junger Menschen

Leonie Mihm, Social Media-Redakteurin bei evangelisch.de.

Für mich gibt es klare Gründe, die gegen ein Verbot sprechen. Es ist offensichtlich, dass die Videoplattform viele Schwächen hat. Beispielsweise haben es extreme Stimmen so leicht wie selten zuvor, junge Menschen zu erreichen. Doch haben diese Stimmen es auf Plattformen wie X, Facebook, Reddit, 4Chan oder neuerdings auch Instagram nicht genauso leicht? Wo liegen hier die Unterschiede? Richtig: Es sind vermeintlich junge Menschen auf TikTok. Gruselig.

Ja, Kinder und Jugendliche sollten nicht unreguliert Content sehen dürfen. Ja, soziale Medien greifen zu viele Daten ab. Ja, junge Menschen lernen auf TikTok krude Rollenbilder und falsche Vorstellungen von Konsum. Ja, der Algorithmus macht es rechten und anderen extreme Akteur:innen viel zu leicht. Dennoch: Wer TikTok verbieten will, bevormundet junge Menschen und das ist unverhältnismäßig.

Auch Menschen, die nach 2000 geboren sind, dürfen sich Räume im Internet aneignen, ihre eigenen Trends und Memes haben und eigenen kulturellen Momente erleben. Denn Orte der freien Entfaltung, Meinungsbildung, Kreativität und Subkultur sind Orte der Identitätsbildung und auch Orte der Resilienz. Genau die braucht es, wenn junge Menschen immer weniger reale Räume durch Kürzungen und Sparmaßnahmen haben, der zwischenmenschliche Ton rauer wird und die Entfaltung sich postpandemisch auf digitale Strukturen verschiebt.

TikTok ist nämlich auch ein unheimlich kreativer und inspirierender Ort, an dem gleichzeitig auch politischer und kultureller Diskurs stattfindet. Die Hürde vom Konsumieren zum Produzieren wird immer weiter aufgelöst. Alle werden zu Prosumern. Fast so, wie das Internet mal werden wollte, vor langer, langer Zeit...

Mich nervt, dass wir den Rechten und Extremen, (die Debatte um) TikTok so einfach überlassen. Es braucht Initiativen wie #reclaimtiktok und kreative und bunte Ansätze auf dieser Plattform. Da kommt für mich auch die Kirche ins Spiel. Wir sagen immer, dass sie da sein will, wo die Menschen sind, aber hat zu große Angst von Jugendlichen auf TikTok ausgelacht zu werden. Hier gilt wie in anderen öffentlichen Räumen: Das Internet ist nur so gut, wie die Leute, die es gestalten.

Wer TikTok verbieten möchte, sollte meiner Meinung nach auch das gleiche Engagement auch in eine Verbotsdebatte um Facebook, X und Co. stecken. Denn: Auch dort gibt es toxische Männlichkeit, Fake News und rechtes Gelaber. Wo ist der Unterschied? Allen Plattformen geht es um Daten, um Geld. Wer über Datenschutz sprechen möchte, darf nicht selektieren. Datenschutz und Netzpolitik sind heute wahrscheinlich so wichtig, wie selten zuvor.

Die offensichtliche Lösung für das ganze Dilemma ist Medienbildung und Medienkompetenz – für alle Plattformen und alle Altersgruppen. Nicht nur an Schulen, sondern auch in der außerschulischen Bildung, in der Erziehungsberatung, am Arbeitsplatz und in der Ausbildung. Eine mediale Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn wir auch wissen, wie wir uns gut im Netz bewegen. Bevor wir es also mit Verboten probieren, sollten wir digitale Räume erstmal bestmöglich, kreativ, gerecht und liebevoll gestalten. Und die Kirche müsste dabei mit christlichem Mut und einer dicken Prise Nächstenliebe vorangehen. So gruselig sind wir jungen Menschen nämlich gar nicht.

evangelisch.de dankt der indeon.de für die inhaltliche Kooperation.