Anna Kampl wird von Freund:innen und Kolleg:innen als mutige und engagierte Pfarrerin beschrieben. Sie teilt ihre Sorgen und Hoffnungen in den sozialen Medien. Ein Herzensanliegen ist ihr die Unterstützung der queeren Community. Dabei wird sie von der Pfarrgemeinde unterstützt. Auf dem Dach der evangelisch-lutherischen Glaubenskirche in Wien-Simmering weht daher die Regenbogenfahne. Doch diese ist manchen Menschen ein Dorn im Auge. Vor Kurzem saß die Pfarrerin in einer Fortbildung zum Thema Krisenmanagement, als ihr telefonisch eine Hiobsbotschaft mitgeteilt wurde. "Ich erfahre, dass der bunte Teil unserer Regenbogenfahne, das Symbol der Vielfalt und Buntheit der Welt, für die wir aus voller Überzeugung stehen und uns tagtäglich einsetzen, mit einem Messer rausgeschnitten und gestohlen wurde", erzählt Kampl auf ihrem Facebook-Kanal. Dort hat sie sich in den vergangenen Tagen viele Gedanken über die Zerstörung der Regenbogenfahne gemacht. Das sei keine Mutprobe der Simmeringer Nachbarskinder gewesen, sondern ein durchdachter, und in der Umsetzung komplizierter Akt, den mindestens zwei Personen ausgeführt haben müssen. "Ein Versuch, uns unsere Werte und unsere Haltung mit einem Messer zu rauben. Ich bin besorgt und traurig über diese durchdachte Art von Vandalismus", so Kampl.
Simmering, wo sich die Glaubenskirche befindet, ist ein großer Wiener Stadtteil mit über 110.000 Einwohner:innen. Es handelt sich um einen früheren Wiener Arbeiter:innen-Bezirk, bei dem politisch lange Zeit traditionell die Sozialdemokraten das Sagen hatten. Doch jetzt zieht es immer mehr Wähler:innen zur rechtspopulistischen und queer-feindlichen Freiheitlichen Partei (FPÖ). Bei den Parlamentswahlen im Vorjahr verzeichnete in Simmering die FPÖ starke Zugewinne und erreichte 31,38 Prozent der Stimmen. Im Gegensatz dazu verloren die Sozialdemokraten (SPÖ), sie konnten aber mit 32,07 Prozent den ersten Platz knapp behaupten.
"Nicht die Gesunden brauchen den Arzt"
Oft wird Kampl von Menschen bemitleidet, dass sie Pfarrerin in Simmering sei. Sie hört, dass es dort nicht "schön genug, zu laut, zu viele Ausländer:innen, keine Evangelische, zu viel Müll .. und so weiter gibt". Solche Aussagen machen die Pfarrerin wütend. "Ich liebe es hier und bin aus großer Leidenschaft und Überzeugung an diesem Ort", betont Kampl. Aus ihrer Sicht gehöre Kirche genau dorthin, "wo nicht alles super schön, sauber, geordnet und gut bezahlt werden kann." Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an folgenden Satz von Jesus: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken." Das sei laut Kampl "mein Verständnis von Kirche", die in Simmering gelebt werde. Gleichzeitig merkt die Pfarrerin, "dass sich auch gerade hier etwas extrem schnell verschiebt. Dass unsere Fahne ausgerechnet jetzt mit einem Messer zerrissen und gestohlen wurde und dass es so professionell gemacht wurde, macht mir große Sorge. Wir müssen wachsam bleiben".
Gegenwärtig ist die politische Lage in Österreich angespannt. Denn zum ersten Mal seit 1945 könnte die rechtspopulistische FPÖ bald an der Spitze einer neuen Regierung stehen. Die FPÖ verhandelt darüber gerade mit der konservativen ÖVP. Beobachter:innen sprechen von einer Zäsur. Falls die Gespräche zwischen FPÖ und ÖVP scheitern, drohen vorgezogene Neuwahlen. Dann könnte die FPÖ Umfragen zufolge noch viel mehr Stimmen bekommen. Queere Menschen haben Angst. Denn die FPÖ möchte in Österreich zahlreiche queer-feindliche Gesetze wie in Ungarn und in Russland umsetzen. Ständig sorgen FPÖ-Politiker:innen mit queer-feindlichen Akten für Schlagzeilen. Im Vorjahr hatte ein FPÖ-Landesparteisekretär und Landtagsabgeordneter im Wahlkampf eine Regenbogenfahne in den Müll geworfen. Die Staatsanwaltschaft wollte Ermittlungen wegen des Verdachts der Verhetzung aufnehmen. Doch die Justiz war machtlos Denn FPÖ und ÖVP stimmten gegen die die Aufhebung der Immunität des Politikers.
Die evangelisch-lutherische Pfarrerin und ihre Gemeinde stellten nach dem queer-feindlichen Angriff in der Öffentlichkeit unmissverständlich klar, dass sie sich nicht einschüchtern lassen. In einer Stellungnahme der Glaubenskirche heißt es: "Wir verstehen uns als inklusive Gemeinschaft, die alle Menschen gleich willkommen heißt und respektiert." Gott habe den Menschen nach seinem Bilde geschaffen. Darin liege die Würde aller Menschen begründet. "Niemand hat mehr oder weniger Würde. Alle Menschen sind Ebenbilder Gottes und als solche gleichermaßen mit Würde ausgestattet", betont die Gemeinde.
Die Regenbogenfahne wehe seit Jahren auf dem Dach der Glaubenskirche. "In dieser Zeit erhielten wir eine Vielzahl von Reaktionen darauf. Die überwiegende Mehrheit sieht darin ein positives Symbol der Hoffnung auf eine friedliche und gleichberechtigte Gesellschaft. Wir mussten aber auch schlimme Auseinandersetzungen, Beschimpfungen und Beschmierungen der Fahne erleben", schreibt die Gemeinde.
"Prüft alles und behaltet das Gute"
In der Stellungnahme wird an den Satz von Paulus erinnert: "Prüft alles und behaltet das Gute" (1 Thess 5,21). Dieser Satz ist die aktuelle Jahreslosung der evangelischen Kirche in Österreich. Die Gemeinde erklärte dazu: "Wir prüfen dauerhaft unser Tun und Handeln, jeden Tag aufs Neue und werden die Fahne deswegen behalten." Die Haltung und die Werte der Gemeinde "lassen sich nicht mit dem Messer zerstören!". Gerade jetzt in der politisch und gesellschaftlich angespannten Situation in Österreich sei es wichtig, "trotzig und doch hoffnungs- und vertrauensvoll dagegen zu halten!"
Neue Fahne feierlich enthüllt
Die Gemeinde ließ eine neue Regenbogenfahne nähen. Diese wurde aber nicht einfach aufgehängt, sondern feierlich bei einem Konzert in der Kirche enthüllt. Die Fotos von der Veranstaltung wurden groß in sozialen Medien verbreitet. Mit Hashtags wie #Freude, #Gemeinschaft, #Solidarität, #musikverbindet, #Inklusion wurde auch die Solidarität mit queeren Menschen ausgedrückt. Das ist als starkes Signal an querfeindliche Kreise in der Gesellschaft zu sehen.
Für das Engagement erhalten die Gemeinde und die Pfarrerin in den sozialen Medien viel Unterstützung. Eine Person erinnerte an einem Posting an die Pfarrerin, dass am Gebäude des Volkskundemuseum Wien vor der Renovierungsphase ebenfalls lange eine Regenbogenfahne angebracht gewesen sei. "Einmal wurde sie gestohlen, ein anderes Mal völlig zerfetzt. Über letzteres waren wir genauso besorgt wie Du, Anna. Wer hat bloß so eine Wut gegen die Vielfalt in unserer Gesellschaft? Wir haben auch prompt eine neue Fahne aufgehängt", schreibt die Person. Eine andere Person erklärt, dass sie stolze evangelische Christin sei. Das Zerstören der Regenbogenfahne sei für sie eine "bodenlose Frechheit". Eine Person rät der Glaubenskirche, eine Kamera aufzustellen, um solchen Vandalismus zu verhindern. Die Pfarrerin antwortet: "Ja. Werden wir machen müssen. Leider."
Zunahme von Hassverbrechen
Zuletzt erreichte die Anzahl der Hassverbrechen in Österreich gegen queere Personen einen traurigen Rekordstand. Dies zeigte im Vorjahr ein Bericht des Innenministeriums über vorurteilsmotivierte Straftaten, sogenannte "Hate Crimes". Demnach wurden 2023 in Summe 446 Hassverbrechen in der Kategorie "sexuelle Orientierung" registriert. Das ist im Vergleich zu 2022 ein Anstieg von 20 Prozent. Die Zahlen für 2024 liegen noch nicht vor. In keinem anderen Bereich habe es eine so starke Zunahme wie in der Kategorie "sexuelle Orientierung" gegeben, heißt es im Bericht des Innenministeriums. So seien mehr Hassverbrechen in der Kategorie "sexuelle Orientierung" registriert worden als in den Bereichen "Hautfarbe", "Geschlecht", "Alter" und "Behinderung". Dabei handelt es sich nur um die Fälle, die angezeigt wurden. Expert:innen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Denn viele queere Personen lassen sich einschüchtern und zeigen Hassverbrechen nicht an.