Lesen bildet. Den Verstand, den Geist und das Herz. Beim Lesen nehmen wir Informationen in uns auf und denken darüber nach, ohne sofort etwas zu erwidern. Im zwischenmenschlichen Bereich funktioniert das in der Wahrnehmung von Claudio Ettl, dem stellvertretenden Akademiedirektor des Caritas-Pirckheimer-Hauses (CPH) in Nürnberg, oft nicht mehr so gut. Vor allem dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Weltansichten aus verschiedenen "Blasen" zusammenkommen. Warum also nicht das Konzept des Lesens in den Raum holen?
Fünf Personen sind an diesem Abend im CPH zusammengekommen und bilden eine "Lebendige Bibliothek". Es sind Menschen, die eine besondere Lebensgeschichte haben, einen interessanten Beruf oder die sich gesellschaftlich engagieren. Die Gäste können sich allein oder in kleinen Gruppen diese "Bücher" jeweils für 20 Minuten ausleihen und in dieser Zeit ihren Erzählungen lauschen oder Fragen stellen.
Standen die Besucherinnen und Besucher am Anfang noch etwas schüchtern vor dem Ausleihplan, hat sich die Stimmung nach der ersten Runde komplett gewandelt. Auch nachdem ein kleiner Gong ertönt, der das Ende der Ausleihzeit markiert, wird angeregt weitergesprochen. Die Grüppchen sind so vertieft, dass sie sich erst nach mehrmaliger Ansage voneinander lösen, damit die nächste Runde beginnen kann. Es wird viel gelächelt, genickt und zugehört. In manchen Gruppen entsteht ein richtiger Austausch.
"Ich fand es sehr schön, die unterschiedlichen Gespräche wahrzunehmen", sagt Alice Butler, die als lebendiges Buch mit fünf verschiedenen Menschen und Gruppen gesprochen hat. "Es war ein sehr rührendes Gespräch dabei, bei dem ich auch einiges über die anderen Personen erfahren konnte. Das war so ehrlich und ganz erfrischend", erzählt sie. Sie selbst habe sich in diesem geschützten Rahmen sehr wohlgefühlt und das auch bei anderen festgestellt. "Ich hatte auch den Eindruck, dass ich sehr gehört werde und die Menschen an mir interessiert waren." Für Butler sei der Abend eine Möglichkeit, über Dinge zu sprechen, die sie schon lange beschäftigen.
Gespräche sind sehr intensiv
Zur Vorbereitung habe sie gesammelt, was sie im Leben geprägt hat und was sie als Mensch ausmacht. Dazu gehöre ihr Aufwachsen als Tochter einer Deutschen und eines Afroamerikaners in einem Dorf bei Fürth. "Ich war schon als Kind mit Rassismus konfrontiert und habe von meinem Vater mitbekommen, dass die Gesellschaft eben so ist und ich mich deshalb besonders anstrengen muss. Dadurch war ich lange wenig aufgeschlossen." Das habe sich im Laufe des Älterwerdens geändert, sagt Butler. Gefragt wurde sie von den Lesenden unter anderem, wie sie Rassismuserfahrungen im Alltag als Krankenpflegerin geprägt haben oder wie sie die Unterschiede zwischen Stadt und Land wahrnimmt.
"Man kommt viel tiefer in die Gespräche rein als bei Vorträgen mit Diskussion", resümiert Christoph Heilmann, der als Leser gekommen ist. "Es ist sehr intensiv." Er habe an diesem Abend viel Neues gelernt, zum Beispiel über den interreligiösen Dialog mit dem Islam. Christine Ursel, Leiterin des evangelischen Forums Erwachsenenbildung in Nürnberg, hat das spezielle Format angesprochen. Auch sie ist als Leserin gekommen. Konkrete Fragen hat sie nicht mitgebracht, sondern sich ganz spontan für die Gespräche eingetragen. "Am Anfang war es schon ein wenig merkwürdig, sich da einfach hinzusetzen. Wir haben das gelöst, indem wir uns einfach wechselseitig vorgestellt haben. Das hat das Eis gebrochen."
Hilfreich für den positiven und angeregten Austausch ist auch die Atmosphäre in dem großen Mehrzweckraum. Dafür wurden Sitzgruppen mit Sesseln aufgestellt und Pflanzenkübel im Raum verteilt. Auf kleinen Tischchen stehen Blumen, Teelichter und die Namensschilder der Bücher. Stimmungsvolle Lichtakzente in Lila und Blau schaffen einen Eindruck von Gemütlichkeit. Im Nebenraum stehen Getränke und Snacks bereit. "Hier kommen keine hundert Leute zusammen", sagt Mitorganisator Claudio Ettl. Gerade das kleine Format ermögliche die persönliche Begegnung. Er selbst habe schon einmal woanders das Konzept der lebendigen Bibliothek kennengelernt. "Die Hoffnung ist, dass zwischen den Leuten, die reden, auch etwas passiert und sie etwas mit nach Hause nehmen."
Das ganze Team sei auf die Suche nach passenden Büchern gegangen, die von ihren interessanten Biografien erzählen können. Am 9. Januar findet um 18 Uhr die nächste Runde statt. Dann kommen unter anderem eine Psychologin, die sich fürs Klima einsetzt, ein Gemeinderabbiner, eine ehemalige Ordensfrau und ein Mordkommissar. Eine Anmeldung als Leserin oder Leser ist bis zum 7. Januar direkt beim CPH möglich.