An kaum einem anderen Ort ist unsere Gesellschaft so selektiert wie sonntags im Gottesdienst. Während evangelische Christ:innen gleichzeitig behaupten, für alle Menschen da zu sein und jede:n willkommen zu heißen, tun sie dies gleichzeitig aus einer rein weißen Perspektive heraus und wenden sich von oben herab in gnädiger Nächstenliebe ihren Schwarzen Geschwistern zu. Am Tisch sitzen und Entscheidungen treffen tun sie dann aber doch lieber alleine. Menschen of Color wollen jedoch mitdenken und nicht bedacht werden in Fürbittengebeten oder in Spendenaufrufen. Sie wollen auch nicht als Inspiration gelten oder exotisiert werden.
All das passiert allerdings bei einem "White Gaze" (weißen Blick). Die afroamerikanische Schriftstellerin Toni Morrison etablierte diesen Begriff in der Literatur. Es beschreibt, wie weiße Menschen stillschweigend von einer weißen Leser:innenschaft ausgehen. Ähnlich läuft‘s in der EKD. Neben einer weiß-männlich-europäischen Theologie, die weiterhin aufrechterhalten wird, als ob Jesus aus Niedersachsen kam, wird das auch an einigen sehr aktuellen und praktischen Beispielen deutlich.
Zur diesjährigen Europawahl bot die EKD sogenannte Dialogräume an. Bei Veranstaltungen wie dem "Sachsen-Sofa im ländlichen Raum" hat man versucht, mit AfD-Wähler:innen ins Gespräch zu kommen. Als Schwarze Frau schreckte mich nicht nur der Titel ab, sondern ich habe mich ernsthaft gefragt, wo die Kirche für Menschen wie mich nach dem offensichtlichen Rechtsruck in Europa da ist.
Niemand hatte offenkundig an die Menschen gedacht, die am Montag nach der Wahl Angst hatten, auf die Straße zu gehen oder ihre Kinder zur Schule zu schicken. Und das betraf nicht nur Schwarze Menschen, sondern auch queere und behinderte Menschen und all die, die Objekte der Nächstenliebe sind. Wo waren die Dialogräume und Notrufnummern für uns? Kirche wendete sich öffentlichkeitswirksam eher denen zu, die für diesen Rechtsruck verantwortlich waren statt den Leidtragenden.
Sarah Vecera ist von Berufs wegen viel jenseits des deutschen Tellerrandes unterwegs: Die Theologin und Religionspädagogin ist Mitarbeiterin der Vereinten Evangelischen Mission (VEM). Auf ihrem Instagram-Profil @moyo.me zeigt sie ihren Alltag als berufstätige Mutter, Prädikantin, und sie nimmt den deutschen Alltagsrassismus in den Blick – auch den in der Kirche. Sie gehört dem evangelischen Contentnetzwerk yeet an.
Und auch bei dieser nun anstehenden Synode sieht man, aus welcher Perspektive das Programm und die Wahl geplant wurden: Wohlwollende weiße Kirchenmenschen lassen Menschen of Color aus der Welt zu Wort kommen. Die meisten sind allerdings nur per Zoom oder Videoclip und nicht leibhaftig im Raum. Man schaut sich die vermeintlich anderen auf dem Bildschirm an, statt ihnen auch die Vernetzwerkung in den Pausen und am Abend zu ermöglichen.
Und auf dem Hauptpodium zum Thema "Flucht, Migration und Menschenrechte" ist von fünf Expert:innen nur eine Person of Color dabei. Hätten Menschen aus unserer Migrationsgesellschaft mit am Entscheidungstisch gesessen, hätte man all diese unglücklichen Konstellationen vielleicht verhindern können.
An den Entscheidungstisch (der Rat der EKD) werden aber erneut ausschließlich weiße Menschen der oberen Mittelschickt gewählt. Ich kenne niemanden persönlich davon, und es geht mir auch weniger um die Personen als um ihre Positionierung in der Gesellschaft. Weitere Menschen mit einem White Gaze kommen mit an den Tisch. Ginge es nur um vier Personen, wäre das wohl auch kaum der Rede wert, aber die EKD versäumt damit erneut ihre Chance die bisher fehlende Perspektive einzubeziehen. Denn nicht nur der Rat ist ausschließlich weiß, sondern auch die gesamte Synode und das in einer Gesellschaft, in der fast die Hälfte aller Grundschüler:innen und ein Viertel aller Erwachsenen Migrationsgeschichte haben. Das kann ich mir nur noch mit Ignoranz erklären – vor allem, wenn es schwerpunktmäßig um Migration gehen soll.
Dem Thema nähert man sich besser aus der Perspektive der Helfenden, denn laut der Präses Anna Nicole Heinrich müsse man mehr Sachlichkeit in den Diskurs bringen und nicht emotionalisieren. Wie sieht sowas aus, wenn man über Menschenleben verhandelt? Warum sind Emotionen nicht willkommen? Steckt dahinter der Gedanke, dass wenn Betroffene sprechen, es zu emotional werden könnte, oder will man die Emotionen vom rechten Rand eher unterbinden? Da Heinrich befürchtet, dass die Diskussionen härter werden, schätze ich zweites. Beides halte ich allerdings nicht für zielführend.
Seit Monaten sitze ich in einer Kammernetzwerkgruppe der EKD zum Thema Rassismuskritik. Über die Hälfte dieses Gremiums besteht aus Menschen, die nicht weiß sind. Die EKD kann also auch nicht behaupten, sie kenne nur weiße Menschen. Das ist nicht wahr, denn wir beraten sie ja sogar ehrenamtlich und hören regelmäßig, wie wichtig das Thema Antirassismus und Diversität sei. Aber wenn es dann zu Wahlen, Besetzung von Ämtern, Posten und Partys kommt, bleibt sie doch am liebsten unter sich.
Eine Kirche, die Zukunft haben will muss, jedoch die Vielfalt der Gesellschaft in ihren eigenen Reihen abbilden und zwar nicht als nettes Deko-Element auf ihren Fotos, sondern in machtvollen Positionen. Eine Kirche, die Zukunft haben will, muss erkennen, wie wichtig es ist, die Perspektive zu weiten. Sie muss verinnerlichen, wie dringend es ist, die vorherrschende Kultur zu durchbrechen, um in einer multidiversen Gesellschaft nicht vollkommen an Relevanz zu verlieren. Sie muss verstehen, warum es wichtig ist, nicht von "den anderen" zu sprechen, wenn sie Menschen of Color meint. Sie sollte ihren weißen Blick dringend selbstkritisch reflektieren.
Menschen of Color können aufgrund ihrer Biografien etwas, was weiße Menschen nicht so schnell lernen können. Sie wissen seit dem Kindergarten, wie sich Rassismus auswirkt und dass all die aufkommenden Emotionen unserer Gesellschaft zum Thema Migration rassistischer Natur sind. Sie zweifeln nicht an der Existenz von Rassismus. Sie suchen keine anderen Erklärungen, wenn es eigentlich im Rassismus geht. Sie können klar benennen: "Das ist Rassismus, und so könnten wir es anders machen." Eine Kirche, die diese Menschen aber vor allem als hilfs- und spendenbedürftig defizitär liebevoll in den Blick nimmt, hat nichts verstanden von Antirassismus und Empowerment.
Den kirchlichen Blick auf die Klimakrise, auf Migrations- und Bürgergelddebatten sowie den Abbau von Machtstrukturen, die Missbrauch begünstigen – all das könnten marginalisierte Menschen ganz anders in den Blick nehmen und den weißen Blick der Kirche verändern. Eine radikale Veränderung ist aber offensichtlich trotz allem immer noch nicht gewollt. Und so kündigte die Präses auch an, man wolle auf der Synode zum Thema Migration die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Ich frage mich, wie sie das ohne diese Menschen machen will. Mit der Vielfalt einer weiß akademischen Kirche wird das wohl alles nichts.
Anmerkung der Autorin: Ich schreibe "weiß" kursiv und "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es nicht um tatsächliche Farben, sondern um soziale Konstruktionen geht, die reale Auswirkungen auf Menschen haben.